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Wir werden nicht in jeder Situation automatisiert fahren

Ein Interview mit Prof. Frank Köster

Prof. Frank Köster ist Gründungsdirektor des Instituts für KI-Sicherheit beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) und einer der Koordinatoren des Verbundprojekts SET Level, das sich mit der Sicherheit des automatisierten Fahrens beschäftigt. Im Interview erläutert er, welche Bedeutung Simulation und Künstliche Intelligenz für die Entwicklung automatisiert fahrender Fahrzeuge haben.

Frage: Herr Prof. Köster, warum beschäftigen Sie sich als Direktor eines Instituts des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt mit dem autonomen Fahren?

Köster: Das wirkt nur auf den ersten Blick befremdlich, aber wenn man sich mit dem DLR näher beschäftigt, sieht man, dass wir uns neben Luft- und Raumfahrtthemen auch mit Energie, Verkehr, Sicherheit und Digitalisierung auseinandersetzen. Ich habe meine DLR-Karriere 2007 tatsächlich im Bereich Verkehr begonnen und beschäftige mit seitdem auch mit dem automatisierten Fahren.

Frage: Was schätzen Sie wird zuerst kommen, das autonome Fahren oder das autonome Fliegen?

Köster: Schwer zu sagen, denn beide Domänen haben ihre speziellen Herausforderungen.
Grundsätzlich teilen die meisten Experten inzwischen die Einschätzung, dass wirklich autonome Systeme noch sehr weit in der Zukunft liegen.
Im Fall der Straßenfahrzeuge benutze ich lieber den Begriff des automatisierten Fahrens, weil darunter unterschiedliche Automatisierungsstufen angeordnet sind.

Interessant ist gerade der Wechsel von Level zwei zu drei, bei dem der Mensch erstmals den Control Loop verlassen kann und das Fahrzeug die Verantwortung für die Fahraufgabe übernimmt. In diesem Zusammenhang wurde Ende letzten bzw. Anfang dieses Jahres mit der Zulassung des Drive Piloten von Mercedes auch ein großer Schritt nach vorne gemacht. Die Funktionalität ist zwar nur auf Autobahnen und bis Tempo 60 verfügbar, bringt für den Kunden aber schonen einen erheblichen Mehrwert.

Frage: Welches sind die größten technischen Herausforderungen bei der Realisierung automatisierter Fahrfunktionen?

Köster: Zentraler Bestandteil automatisierter Fahrfunktionen sind das Beschleunigen und Bremsen, das Halten der Spur und das Ausweichen in der Spur, wenn ein anderes Fahrzeug plötzlich hineinragt. Das hat man auf Autobahnen für moderate Geschwindigkeiten gut im Griff. Möchte man das Tempo jedoch von z.B. 60 auf 130 km/h erhöhen, ist dies eine durchaus große Herausforderung, weil man weiter vorausschauen und auch den folgenden Verkehr berücksichtigen muss. Das stellt höhere Anforderungen an die Sensorik, insbesondere wenn das Fahrzeug in solchen Situationen auch noch die Spur wechseln soll. Noch komplexer wird es, wenn Sie die Autobahn verlassen und sich auf Bundes- und Landstraßen oder sogar in urbanen Szenarien bewegen, weil Sie dort mit weniger stark normierten Verhaltensmustern rechnen müssen.

Frage: Und wo sehen Sie rechtliche und ethische Probleme?

Köster: Fangen wir mit den rechtlichen Aspekten an. Einige gesetzliche Formulierungen sind interpretationsbedürftig, z.B. dass Sie sich fahrbereit halten müssen, um in angemessener Zeit wieder in die Verkehrsführung eingebunden werden zu können. Was heißt das genau? Eine weitere Herausforderung ist, dass die Fahrzeuge unterschiedliche Funktionsumfänge haben und sich in bestimmten Verkehrssituationen unterschiedlich verhalten. Muss ich dies als Fahrer wissen und ggf. sogar berücksichtigen, um die korrekte Funktion des Fahrzeugs bewerten zu können? Auf der ethischen Seite haben Untersuchungen gezeigt, dass die Dilemma-Situationen, die lange diskutiert wurden, keine praktische Relevanz im beobachtbaren Unfallgeschehen haben. Grundsätzlich sollte ein automatisiertes Fahrzeug so ausgelegt sein, dass es jede Form von Kollision vermeidet. Natürlich kann es einzelne Unfallsituationen geben, die ein Fahrer vielleicht besser bewältigt hätte. Verglichen mit dem Ist-Zustand kann ein automatisiertes Fahrzeug aber auf jeden Fall einen Sicherheitszugewinn ermöglichen.

Frage: Welche Bedeutung hat die Simulation für die Entwicklung automatisierter Fahrfunktionen?

Köster: Die Simulation spielt in verschiedenen Phasen der automobilen Wertschöpfung eine wichtige Rolle, angefangen vom Design des Fahrzeugs über die Entwicklung des Anforderungsgerüsts, das das Fahrzeug abbilden bzw. beherrschen muss, die Optimierung der Fahrfunktionen in der virtuellen Umgebung bis hin zum systematischen Testen anhand vordefinierten Testkataloge und -Szenarien. Wahrscheinlich geht es sogar noch weiter bis zum Aftersales-Prozess, wo dann Software-Updates zur Aktualisierung der Fahrfunktionen vor ihren Roll-Out auch simulationsbasiert erprobt werden. Die Simulation ist deshalb sehr wichtig für das automatisierte Fahren und ein zentraler Aspekt in dem Projekt SET Level.

Frage: Welche Ziele verfolgen Sie in dem Projekt?

Köster: Wir konzentrieren uns auf die Simulation und die Technologie drumherum, d.h. auf die Frage, wie die Simulationswerkzeuge von ihrer Architektur her aufgebaut sein müssen und welche Kernprozesse wir damit abbilden wollen. Ein weiterer wichtiger Aspekt, mit dem sich PROSTEP eingehend beschäftigt, ist die Dokumentation und damit z.B. die Schaffung einer Grundlage für eine Sicherheitsargumentation: wir dokumentieren, was wir mit welchen Ergebnissen getestet haben, um eine lückenlose Sicherheitsargumentation aufbauen zu können. Das gilt nicht nur für die Simulation, sondern auch für andere Prüfmittel, z.B. den Prüfstand oder Tests im Feld. Mit diesen weiteren Prüfmitteln setzt sich beispielsweise das Projekt V&V Methoden näher auseinander.

Frage: Was leistet die KI heute für die Analyse komplexer Fahrsituationen?

Köster: KI ist ein Thema, das mich gerade aus der Perspektive des neugegründeten DLR-Instituts für KI-Sicherheit, intensiv umtreibt. Man kann sie an einigen Stellen sehr gut als Werkzeug nutzen - denken Sie nur an das ganze Thema Perzeption. Wenn Sie dafür ein kamerabasiertes System einsetzen, ist ein wichtiger Schritt, die Objekte in der Umgebung des Fahrzeugs zu extrahieren und zu klassifizieren. Hier ist die KI konventionellen Algorithmen klar überlegen. Die Herausforderung besteht aber dann darin, dass über die Kamerasysteme auch neue Angriffsmöglichkeiten auf die KI-basierten Funktionen im Fahrzeug entstehen, die man wiederum durch andere Sensorik kompensieren muss.
Solche Gesamtsystemzusammenhänge zu gestalten und umzusetzen, ist unser Ziel.
Dabei gilt für uns der Grundsatz Safety- und Security-by-Design.

Frage: Sie haben sich schon in Ihrer Doktorarbeit mit der KI beschäftigt. Welche Fortschritte sind seitdem festzustellen?

Köster: In der Tat, ich habe mich in meiner Dissertation mit Methoden der KI beschäftigt und mir dabei sowohl evolutionäre Algorithmen als auch neuronale Netze angeschaut. Insbesondere das Thema Deep Learning hat im Bereich der neuronalen Netze in den letzten Jahren für einen enormen Boost gesorgt, um Input-Daten vorab aufzubereiten und darin auch nichtlineare Zusammenhänge untersuchen zu können. Dadurch hat es gerade im Bereich der Objekt-Identifikation und -Klassifikation große Fortschritte gegeben. Darüber hinaus gibt es neue Möglichkeiten, Feature-Maps in die Systeme einzubauen und dadurch besser zu verstehen, was in neuronalen Strukturen wirklich gelernt und für weitere Aktionen als Entscheidungsgrundlage herangezogen wird.

Frage: Für Verfahren wie das Deep Learning fehlen oft die Trainingsdaten. Können gemeinsame Datenräume wie GAIA-X oder Catena-X da Abhilfe schaffen?

Köster: Ich glaube, dass solche Daten- und Dienste-Ökosysteme für die gesamte Wertschöpfung in der Automobilindustrie wichtig sind. Dadurch können über Unternehmensgrenzen hinweg deutlich mehr Daten zugänglich gemacht werden, als jedes einzelne Unternehmen für sich einfahren kann. Auch deshalb engagieren wir uns intensiv in diesen Projekten. Ein zweiter wichtiger Aspekt mit Blick auf SET Level ist aber, dass wir viele dieser Trainingsdaten künftig synthetisch, d.h. simulationsbasiert erzeugen werden. Darüber hinaus verändern sich auch die Umweltsysteme ständig, z.B. wenn Städte ihre Infrastruktur neu planen und Radwege stärker in die Fahrspuren integrieren. Das muss beim Testen automatisierter Fahrzeuge berücksichtigt werden. Hier liefern die verschiedenen Datenquellen oder zukünftig auch Datenräume, die auf der Grundlage von GAIA-X zusammenfließen, wichtigen Input.

Frage: Ist der enorme Aufwand, der für das automatisierte Fahren im städtischen Verkehr getrieben wird, überhaupt gerechtfertigt?

Köster: Das ist eine spannende Frage. Braucht man Fahrzeuge, die in jeder erdenklichen Situation vollautomatisiert fahren, oder lassen sich viele Mehrwerte nicht auch nur in bestimmten Situationen oder Ausschnitten des Verkehrssystems generieren? In vielen Städten haben Sie z.B. einen ÖPNV, der sich um das Stadtzentrum bewegt. Da macht es Sinn, die Shuttles voll zu automatisieren und fahrerlos fahren zu lassen, denn Sie kennen die Operational Design Domain recht gut und können dafür Sicherheitsstrategien implementieren. Wenn Sie Sharing-Konzepte unterstützen wollen, können Sie z.B. nur die Bereitstellung und Abgabe der Fahrzeuge über einen Hub automatisieren. Das macht es für die Menschen vielleicht einfacher, auf ein eigenes Fahrzeug zu verzichten. Durch die engen Gassen der Innenstadt von Braunschweig, wo ich lebe, vollautomatisiert fahren zu wollen, ist dagegen eine extreme Herausforderung und vielleicht zukünftig auch immer weniger im Interesse moderner Stadtkonzepte.

Frage: Sie haben sich während des Studiums auch im Fach der Psychologie bewegt und viel in interdisziplinären Teams aus Informatikern, Ingenieuren und Psychologen gearbeitet. Welche psychischen Belastungen kommen auf die Insassen automatisiert fahrender Fahrzeuge zu?

Köster: Wenn es gut gemacht wird, hoffentlich keine. Es gibt intensive Untersuchungen dazu, wie man den Menschen in so ein Fahrzeug integriert, insbesondere dann, wenn er die Fahraufgabe wieder übernehmen muss. Was man vermeiden sollte ist eine Situation, in der Sie als Fahrer beobachten müssen, ob das Fahrzeug richtig funktioniert, weil das kognitiv deutlich anspruchsvoller ist als die Aufgabe selbst durchzuführen. Ansonsten ist das automatisierte Fahren in Zukunft wahrscheinlich nicht stressiger als das Fahren mit dem Bus, Zug oder im Taxi.

Herr Prof. Köster, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.
(Das Interview führte Michael Wendenburg)


Zur Person

Prof. Frank Köster arbeitet seit 2007 beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR), unter anderem als Abteilungsleiter Automotive und als Leiter Geschäftsfeldentwicklung Automotive, Bahn, ÖVPN und Verkehrsmanagement im Institut für Verkehrssystemtechnik. Seit Dezember 2020 ist er Direktor des neu geschaffenen DLR-Instituts für KI-Sicherheit. Gleichzeitig leitet er die Abteilung Intelligente Transportsysteme des Departments für Informatik an der Uni Oldenburg, wo er Informatik studierte, promovierte und habilitiert wurde. Im Rahmen der Promotion untersuchte er bereits verschiedene Ansätze der Modellbildung und Simulation und befasste sich auch mit der Frage, wie sich Simulationsmodelle mit Hilfe von Data Mining und Künstlicher Intelligenz erklären lassen.

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