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Der digitale Produktpass strahlt weit über Europa hinaus

Ein Interview mit Thorsten Kirschner und Alexander König

Der digitale Produktpass (DPP) bringt nicht nur PLM- und PIM-Welt näher zusammen, sondern erfordert außerdem eine engere Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Standardisierungsorganisationen. Welche Rolle GS1 in diesem Kontext spielt, erläutern Thorsten Kirschner, Senior Manager Industry Engagement bei der GS1 Germany GmbH, und DPP Expert und Senior Manager Sustainability Alexander König im Interview.

Frage: Welche Rolle spielt GS1 auf dem Gebiet der Standardisierung und wie ist die Organisation global aufgestellt?

Thorsten Kirschner: GS1 Germany ist eine von 118 GS1 Organisationen, mit rund 250 Kolleginnen und Kollegen. Weltweit beschäftigt GS1 mehrere Tausend Mitarbeitende, die zusammen mit unseren Anwendern globale, industrieübergreifende Identifikations-, Kommunikations- und Prozessstandards entwickeln. Das ist der Hauptzweck der GS1. Wir haben aktuell ein Portfolio von 25 globalen Standards für die Bereiche Identify, Capture und Share. Vermutlich der Bekannteste ist der klassische EAN-Barcode, den Sie von der Supermarktkasse kennen. Den Verbreitungsgrad unserer Standards können Sie daran ablesen, dass nach einer Evaluierung von Accenture täglich 10 Milliarden GS1-Barcodes gescannt werden - nicht nur im Retail-Bereich. Das sind mehr Scan-Vorgänge als Google-Abfragen pro Tag (ca. 8,5 Milliarden).

Frage: In welchen Industrien kommen die GS1-Standards zum Einsatz?

Kirschner: Ich bin bei GS1 Germany für die sogenannten technischen Industrien zuständig. Dazu gehören nach unserem Verständnis Bahn, Bau, Automotive, Defense, der klassische Maschinen- und Anlagenbau und die maritime Wirtschaft. Weltweit ist GS1 mittlerweile in mehr als 20 Branchen aktiv. In den vergangenen fünf Jahrzehnten haben wir unsere Standards insbesondere in der Konsumgüterindustrie, im Gesundheitswesen sowie auf elektronischen Marktplätzen erfolgreich etabliert. Die technischen Industrien verzeichnen in den vergangenen Jahren das stärkste Wachstum an neuen Teilnehmern.

Frage: Wofür werden die GS1-Standards in den technischen Industrien genutzt?

Kirschner: Was wir in den technischen Industrien machen, hat viel mit PLM und PIM zu tun, denn es geht um die End-to-End-Betrachtung der Prozesse vom Design bis zur Verschrottung. Diesen gesamten Lebenszyklus eines Produktes decken wir mit unserem Portfolio unternehmens- und systemübergreifend ab. Nicht nur dass die Objekte über den gesamten Lebenszyklus eindeutig identifiziert sind – wir bieten auch Standards, mit denen die zugehörigen Informationen zu diesen Objekten strukturiert über System-, Unternehmens- und Ländergrenzen hinweg ausgetauscht werden können.

Frage: Welche sind die Vehikel für das Daten-Sharing?

Kirschner: Wir unterscheiden grundsätzlich drei Datenarten. Für den Austausch von Artikel-Stammdaten haben wir ein Vehikel, das sich GDSN (Global Data Synchronisation Network) nennt. Dann haben wir Transaktionsdaten, die per EDIFACT/EANCOM oder XML ausgetauscht werden können. Und wir haben mit EPCIS (Electronic Product Code Information Service) ein Vehikel für den Austausch von Ereignisdaten, das in Realtime Antworten auf klassische W-Fragen gibt: Was in der Wertschöpfungskette wann, wo und warum passiert.

Frage: Wer implementiert diese Standards in die Kundensysteme und -prozesse?

Kirschner: Wir implementieren unsere Standards nicht selbst, sondern stellen die Dokumentation unseren Implementierungspartnern kostenlos zur Verfügung. SAP, T-Systems oder IBM, aber auch kleinere Start-ups setzen diese Standards dann auf Kundenwunsch in ihrer Software um. So sorgen zum Beispiel unsere rund 240 GS1 Germany Solution Partner für die erfolgreiche Umsetzung der GS1-Standards in der Praxis.

Frage: Ihre Kunden sind im Wesentlichen Softwarehäuser und Implementierungspartner?

Kirschner: Das ist nur eine unserer Zielgruppen. Wir stehen auch direkt in Kontakt mit den Anwendern aus den oben genannten Branchen. Nehmen Sie z.B. den Bahnbereich, wo wir direkt mit den Bahnbetreibern wie beispielsweise DB, SNCF, ÖBB oder SBB und auch deren Zulieferern wie Siemens, Stadler, Knorr-Bremse oder CAF gemeinschaftlich Lösungen entwickeln, die dann u.a. von den Solution Partnern umgesetzt werden. Das Ergebnis ist, dass beispielsweise schon heute viele Züge im europäischen Schienenverkehr mit einem GS1-konformen RFID-Tag ausgestattet sind, so dass ein Bahnbetreiber z.B. genau weiß, wann ein Zug eine bestimme Stelle mit welchen Parametern passiert hat.

Frage: Bei GS1 steht das einzelne Produkt im Vordergrund. Im PLM-Bereich spielt dagegen der Aufbau dieses Produkts und die Verwaltung der Stücklisten-Informationen eine wichtige Rolle. Wäre der Barcode der Einstiegspunkt in diese Stückliste?

Kirschner: Eine Lokomotive ist aus Sicht des Bahnbetreibers ein Asset, aber in diesem Asset stecken Komponenten und Bauteile von verschiedenen Herstellern, die ich bestenfalls mit meinem GS1-Barcode oder per RFID identifiziert habe. Dieser bildet dann nicht viel mehr als einen eindeutigen, überschneidungsfreien Identifikator ab, also zum Beispiel eine serialisierte GTIN (Global Trade Item Number), die auf weiterführende Informationen in den entsprechenden IT-Systemen verweist. Das kann ein PIM-, ein PLM- oder ein ERP-System sein. GS1 verwaltet keine Daten für die Kunden.

Frage: Welche Rolle spielen die GS1-Standards für den Aufbau des digitalen Produktpasses (DPP)?

Alexander König: Dazu müssen wir uns das DPP-System etwas genauer anschauen. Zentrale Figur ist der Responsible Economic Operator, der das Produkt in den Verkehr bringt und verantwortlich für den Aufbau des DPP ist. Der Operator hostet die DPP-Daten, wahrscheinlich dezentral auf seiner eigenen Produktseite, auf der alle relevanten Informationen aufgeführt sind. Der DPP wird eine eindeutige Produktidentifizierung haben, die einem ISO-Standard folgen muss. Das kann ein GS1-Standard sein. Diese Identifizierung kann dann über einen Datenträger wie einen QR-Code in Verbindung mit GS1 Digital Link auf dem Produkt aufgebracht werden, um die Informationen direkt von einem Smartphone oder anderen Endgeräten abrufen zu können.
Über seine Resolver-Fähigkeiten sorgt GS1 Digital Link dafür, dass unterschiedliche Anwender bzw. Rollen unterschiedliche Informationen erhalten, obwohl sie über eine einheitliche URL auf die Produktseite zugreifen.

Frage: Wer pflegt die Datenbanken, die sich hinter einem DPP verbergen?

König: Normalerweise sieht das DPP-System vor, dass der Inverkehrbringer des Produkts die eigenen Daten hostet, und dann wird es eine EU Registry geben, eine Art Telefonbuch, in dem man nachschlagen kann, wo welche Informationen liegen. Aber es wird keinen zentralen Player geben, der alle DPP-Daten hostet. Zusätzlich wird jeder DPP ein Backup bei einem Service Provider haben, falls der Inverkehrbringer aus dem Markt geht.

Frage: Was bedeutet der DPP für die PLM- und die PIM-Welt?

König: Dadurch, dass man noch nicht weiß, welche Informationen für welche Produktgruppen überhaupt im Produktpass auftauchen müssen, ist die Diskussion darüber, wo diese Informationen herkommen, noch eine sehr abstrakte. Es gibt eine horizontale Ebene, die beschreibt, wie das DPP-System funktionieren soll. Dieses System wird für alle Produktkategorien gleich sein. Dann gibt es aber die vertikalen Themen, die DPP-Daten, die produktgruppenspezifisch sind. Hier muss man unterscheiden zwischen Produktgruppen, für die es schon Verordnungen gibt, die jetzt aktualisiert werden, und Produktgruppen, für die das neu formuliert werden muss. Das geschieht über sogenannte Delegierte Rechtsakte. Die Inhalte werden aktuell im Ökodesign-Forum ausgearbeitet und vor der Veröffentlichung ist es schwer, konkrete Prognosen über Inhalte oder Berichtsebenen zu machen.

Frage: Was ist mit dem Thema Nachhaltigkeit, das ja eigentlich der wesentliche Treiber für den DPP ist?

König: Der DPP hat zum Ziel, dass die Art und Weise wie wir Produkte produzieren und konsumieren, nachhaltiger wird, aber wo dieser Zugewinn passiert, ist von Produktgruppe zu Produktgruppe unterschiedlich. Bei Konsumgütern geht es vor allem um die Kaufentscheidung des Konsumenten, dass er z.B. bei einem Waschmittel weiß, welche umweltschädlichen Stoffe darin enthalten oder eben nicht enthalten sind. Bei technischen Produkten kommt der Nachhaltigkeitsaspekt oft erst nach der Kaufentscheidung zum Tragen. Bei einer Industriebatterie geht es nicht um eine nachhaltige Kaufentscheidung, sondern eher um die Wartungs- und Recycling-Prozesse, für die auch ganz andere Informationen im DPP gefordert sind.

Hier kommt dann womöglich der EPCIS-Standard ins Spiel, um Ereignisse, die nach dem Kauf passieren und Wartungs- oder Reparatur-Zwecken dienen, dem DPP in strukturierter Form hinzufügen zu können.

Frage: Ist der mit dem DPP verbundene Aufwand für kleinere und mittlere Unternehmen überhaupt zu bewältigen oder schmälern wir unsere Wettbewerbsfähigkeit, weil das im Wesentlichen eine europäische Initiative ist?

König: Der DPP strahlt weit über die EU hinaus. Wir wissen, dass auch in China ganz intensiv an einem digitalen Produktpass gearbeitet wird. Und es gibt globale Bestrebungen, das auf ISO/IEC-Ebene zu verankern. Europa ist da so ein bisschen das Vorbild. Hier werden die Rahmenbedingungen gesetzt, die bestenfalls sicherstellen, dass es für unterschiedliche Regionen nachher nicht unterschiedliche digitale Produktpässe gibt.

Ich bin mir sicher, dass der DPP auch für kleine und mittlere Unternehmen machbar sein wird, wenn man erst mal nur mit einem rudimentären Datenset anfängt und das dann iterativ weiterentwickelt. Wenn gleich zum Start die eierlegende Wollmilchsau gefordert ist, wird es nicht funktionieren. Aber da organisieren sich die Branchenverbände gut genug, damit diese Botschaft in Brüssel ankommt.

Frage: Sie unterstützen im Mai 2026 gemeinsam mit VDMA und prostep ivip Verein den 3. Interoperability Summit. Wo sehen Sie Bedarf für mehr Interoperabilität?

Kirschner: Wir bringen uns stärker als in der Vergangenheit in diese Veranstaltung ein, um die Offenheit und Interoperabilitätsfähigkeit unserer Standards aufzuzeigen. In den technischen Industrien interessieren uns z.B. Entwicklungen wie die Verwaltungsschale (AAS bzw. Asset Administration Shell) und daraus abgeleitet der GS1 Digital Link, der ein physisches Produkt mit seinem digitalen Zwilling verbindet.

Frage: Zu welchen Organisationen steht GS1 im Wettbewerb? Ist das z.B. der DIN?

Kirschner: Nein, tatsächlich kooperieren wir mit dem DIN. Wir sind so aufgestellt, dass unsere Standards industrieübergreifend einsetzbar sind. Es gibt andere Standardisierungsorganisationen, die stark auf eine bestimmte Branche fokussiert sind, z.B. die Medizintechnik oder den Finanzbereich. Da gibt es zum Teil konkurrierende Standards. Aber insgesamt stehen wir vor allem bei der Identifikation in den verschiedenen Industrien sehr gut da.

Frage: Wie wäre da ECLASS einzuordnen?

Kirschner: Wir müssen unterscheiden zwischen Identifikation und Klassifizierung. Mit GPC (Global Product Classification) haben wir einen eigenen Standard für die Produktklassifikation, der besonders im Bereich der Fast Moving Consumer Goods eine Bedeutung hat. Deshalb haben wir vor einigen Jahren ein Memorandum of Understanding (MoU) mit ECLASS unterzeichnet, weil wir den Standard in den technischen Industrien als hochgradig relevant für die Klassifizierung ansehen. Mit dem VDMA haben wir ebenfalls ein MoU.

Meine Herren, wir danken für das interessante Gespräch. 
(Das Interview führte Dr. Martin Strietzel)


Zu den Personen

Thorsten Kirschner ist als Senior Manager Industry Engagement bei GS1 Germany an der digitalen Transformation in den technischen Industrien beteiligt. Sein Fokus liegt auf der Anwendung globaler GS1-Standards in unterschiedlichen Branchen. Zu seinen Schwerpunkten zählen unter anderem die Förderung der Interoperabilität von Standards im Kontext von Industrie 4.0, die Optimierung des Managements im Bahnsektor durch transparente und effiziente Material- und Informationsflüsse über den gesamten Lebenszyklus hinweg und die Integration von GS1-Standards in das Building Information Modeling (BIM) der Bauwirtschaft.

Alexander König ist Senior Sustainability Manager bei GS1 Germany und treibt die Umsetzung des Digitalen Produktpasses (DPP) voran – mit Fokus auf Konsumgüter, Fashion, Wasch- und Reinigungsmittel sowie den Handel. Zuvor war er Head of Business Innovation beim Kreislaufwirtschafts-Pionier BuyBay und verantwortete die Skalierung von Recommerce-Lösungen. König verbindet Regulierung, Technologie und Impact, um den Übergang zu einer stärker zirkulären und datengetriebenen Wirtschaft zu beschleunigen.

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