Frage: In Branchen wie der Automobilindustrie wird MBSE seit Jahren diskutiert. Wie weit sind die Unternehmen mit der Umsetzung?
Gräßler: Die Automobilindustrie arbeitet mit Hochdruck daran, gerade diese Ursache-Wirk-Relationen nachvollziehbar und transparent zu modellieren, weil sie durch die vermehrte Nutzung von Software und Künstlicher Intelligenz gar nicht mehr alle möglichen Fahrsituationen durchtesten kann. Je mehr Assistenzfunktionen integriert werden, desto wichtiger wird es, vorausschauend die Qualität und Sicherheit im Sinne von Safety und Security abzusichern. Das ist auch für manche Automobilhersteller Neuland. Viele stehen noch ziemlich am Anfang, was MBSE angeht, aber wenn es ihnen jetzt gelingt, ihre Entwickler zu überzeugen und den Ansatz gründlich umzusetzen, können sie sich einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil verschaffen.
Frage: Ist MBSE nur ein Thema für die Automobilhersteller oder auch für kleinere Unternehmen?
Gräßler: Es ist ein Thema für alle Unternehmen und etliche Branchen. Ich bin sicher, dass die Automobilhersteller es blitzschnell auf ihre Zulieferer runterdeklinieren werden, sobald sie bei MBSE Oberwasser haben, ähnlich wie sie vor einigen Jahren die Einführung des CMM L2-Standards (Capability Maturity Model) für die Software-Entwicklung eingefordert haben. Auch in der Medizintechnik, in der Embedded Software und Künstliche Intelligenz für die Behandlung genutzt werden, ist ein hohes Maß an Sicherheit erforderlich, was ich nur über so einen modellbasierten Ansatz gewährleisten kann. Im Smart-Home-Bereich gibt es bei der Vernetzung smarter Hausgeräte ebenfalls Sicherheitsaspekte zu beachten, z.B. wenn ich von unterwegs den Backofen einschalten möchte. Ich denke, dass MBSE für alle Unternehmen relevant ist, für die Anforderungsentwicklung und Zertifizierung eine wichtige Rolle spielen.
Frage: Haben kleinere und mittlere Unternehmen das schon erkannt?
Gräßler: Die Studie, die wir im Rahmen des ImPaKT-Projekts durchgeführt haben, zeigt, dass KMUs zwar mit den gängigen CAD-Systemen und Office-Anwendungen arbeiten und häufig auch ein ERP-System einsetzen. Simulationstools und ausgewiesene MBSE-Tools sind bei ihnen dagegen nicht sehr verbreitet und vor allem noch nicht vernetzt, so dass sie disziplinenübergreifende Zusammenhänge nicht gut sichtbar machen können. Hier gibt es großen Handlungsbedarf. Aber eigentlich muss man noch einen Schritt vorher ansetzen. Nicht alle KMUs sind sich überhaupt der Tatsache bewusst, dass MBSE ein wichtiger Wettbewerbsvorteil werden wird.
Frage: Was sind nach Ihrer Einschätzung die größten Hürden bei der Implementierung von MBSE?
Gräßler: Zum einen sicher das abstrakte Denken oder das, was ich eben als höhere Mathematik des Entwickelns bezeichnet habe. Ich muss auf der Ebene der Funktionen und Wirkprinzipien modellieren, ohne eine konkrete Komponente in der Hand zu haben. Je erfahrener ein Entwickler ist, desto stärker ist er in den Lösungen verhaftet, die er kennt. Die zweite Hürde ist, dass der Nutzen von MBSE nicht oder nur schwierig messbar ist, weil ich dafür in der Entwicklung theoretisch ein Projekt mit und eines ohne MBSE abwickeln müsste. Das kann sich aber keiner leisten. Die dritte Hürde ist der Mangel an Experten. Es fehlen Fachkräfte mit entsprechender Qualifikation, weil MBSE erst seit kurzem Schwerpunkt an den Universitäten ist. Wir hier in Paderborn lehren das zwar schon länger, aber das ist nicht bundesweit der Fall. Die jungen Leute müssen erst einmal ausgebildet werden und dann müssen sie in den Unternehmen von den alten Hasen auch gehört werden.
Frage: Sind die agilen Vorgehensmodelle nicht auch eine Hürde? Manche Experten meinen, sie beißen sich mit dem MBSE-Ansatz.
Gräßler: Nein, das funktioniert wunderbar miteinander. Eine Sache ist, wie ich meine Daten modelliere, und eine andere, wie ich mich organisatorisch aufstelle. Ich kann MBSE genauso mit einer klassischen Projektorganisation durchführen wie mit einem agilen Ansatz. Ich muss mir bei der agilen Projektorganisation nur halt vorher überlegen, wie ich meine Datenmodelle für die Inkremente aufbaue, d.h. ich brauche auf einer hohen Flughöhe eine übergeordnete Struktur, in die ich die Datenmodelle integriere.