Ich will natürlich nicht, dass der oder die Nutzende alles sieht, sondern nur die relevanten Informationen und Strukturen. Das Rollen- und Rechte-Management über die bisherige Systemgrenzen hinaus sicherzustellen, ist ein hochspannendes Thema.
Frage: Gibt es Unternehmen, die ASE schon durchgängig bis in den Service umgesetzt haben?
Riedel: Da gibt es leider erst sehr wenige, weil drei wesentliche Hürden im Wege stehen. Das eine sind technische Hürden wie die modellbasierten Beschreibungssprachen, die wir aber irgendwann überwinden werden. Dann gibt es die organisatorischen Hürden in den Unternehmen, die sich vielleicht dank Corona ein bisschen auflösen, weil viele Leute merken, dass wir wesentlich weiter wären, wenn wir die Vernetzung über die Domänen hinweg schon hätten. Die Unternehmen sind organisatorisch für die Planung und Steuerung der Produktlebenszyklus-Betreuung noch nicht aufgestellt. Hinzu kommen die menschlichen Hürden. Sie müssen Ingenieur*innen erst mal dazu bringen, dass sie Ihnen in die nächste Dimension folgen und die damit anwachsende Komplexität verstehen. Die organisatorischen und menschlichen Hürden halte ich momentan für größer als die technischen.
Frage: Welches sind die Schwerpunkte des ASE-Forschungsprogramms am Fraunhofer IAO?
Riedel: Wir haben uns sechs Themenfelder zurechtgelegt, die wir in zwei Ausprägungen bearbeiten. Das erste ist die modellbasierte Systementwicklung mit domänenübergreifenden Themen wie Datenanalyse, sprich die Erweiterung der heutigen Methoden. Das zweite ist die wertstromgerechte Produktgestaltung, d.h. die Nutzung von Prozessinformationen aus der Produktion für die Produktgestaltung. Voraussetzung ist, dass die Wertstromdefinition zu einem früheren Zeitpunkt erfolgen muss als heute. Das dritte ist die Auswertung der Daten aus Produktionsplanung und Produktion mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz (KI). Das vierte Feld hat auch mit KI zu tun, aber hier geht es um die Auswertung der großen Datenmengen aus der Produktentstehung, um Produktentwickler*innen Best Practices-Vorschläge zu unterbreiten. Beim fünften Themenbereich geht es um die Systemkonfiguration, d.h. um die Frage, wie ich nicht nur das Produkt, sondern auch den Prozess und den Service konfigurieren kann, um z. B. den Impact von Änderungen am Produkt auf den Prozess beurteilen zu können. Das letzte Themenfeld ist vielleicht etwas altbacken, aber wir müssen nochmal an die PLM-Systeme ran. Sie schaffen es heute noch nicht, ASE zu unterstützen.
Frage: Wo sollen z. B. die produktindividuellen Prozessinformationen gemanagt werden? Das ist eigentlich mehr ein MES-Thema.
Riedel: Wir brauchen sicher die Integration von MES-Funktionalität in PLM, sei es über Schnittstellen oder indem man sie auf der PLM-Infrastruktur laufen lässt. Angenommen MES- und PLM-Systeme würden sich in Richtung serviceorientierter Architekturen weiterentwickeln, dann wäre es gar nicht mehr so schlimm, dass es da x verschiedene Systeme gibt, weil sie als Basis ein Daten-Repository verwenden, das die Kopplung der Modelle gewährleistet und ihre Konsistenz und Integrität sicherstellt. Allerdings läuft das dem Architektur-Muster heutiger PLM-Systeme ziemlich entgegen.
Frage: Sie sprachen vorhin von zwei Ausprägungen. Was ist damit gemeint?
Riedel: Wir haben lange mit dem Wirtschaftsministerium des Landes Baden-Württemberg darüber diskutiert, wie wir sicherstellen können, dass die Themen für die Unternehmen vor Ort schnell greifbar werden. Deshalb haben wir ein mobiles Labor aufgebaut, in dem wir an einem relativ simplen Produkt mit einem Service-Feature und einer schnell verständlichen Produktionsanlage das Zusammenspiel von Engineering-, Produktionsprozessen und Service veranschaulichen. Das Labor steckt in einem Übersee-Container, der Corona-bedingt momentan bei uns auf dem Hof steht. Die andere Ausprägung ist, dass wir am Fraunhofer IAO ein ähnliches Labor aufbauen, das aber eher auf die Forschung ausgerichtet ist.
Frage: Welche Erkenntnisse können die Unternehmen in diesem Plug-In-Labor gewinnen?
Riedel: Erst mal verstehen sie schneller, was die modellbasierte Systementwicklung oder die wertstromorientierte Produktgestaltung eigentlich bedeuten. Die Idee ist, dass sie die Labor-Einrichtung mit ihren eigenen Daten füttern und die Mehrwerte direkt erkennen können. Wir wollen den Unternehmen an einem einfachen Beispiel zeigen, wie ASE funktioniert.
Herr Prof. Riedel, wir danken für das Gespräch.
(Das Interview führte Michael Wendenburg)