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Nachhaltigkeit braucht gesellschaftlichen Konsens

Ein Interview mit Prof. Frank Mantwill

Nachhaltigkeit ist mehr als die Reduzierung von Energieverbrauch und CO2-Ausstoß. Welche Zielkonflikte bei der nachhaltigen Produktentwicklung in Einklang gebracht werden müssen, erläutert Prof. Dr.-Ing. Frank Mantwill, Leiter der Professur für Maschinenelemente und Rechnergestützte Produktentwicklung (MRP) an der Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg, im Interview.

Frage: Die UNO hat nicht weniger als 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung definiert. Worüber reden wir eigentlich, wenn wir über Nachhaltigkeit reden?

Mantwill: Wir orientieren uns an den drei Säulen der Nachhaltigkeit, die in den 17 Zielen der UN angelegt sind, d.h. wir betrachten die ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekte. Wir konzentrieren uns nicht nur auf Energieverbrauch und CO2-Ausstoß, sondern haben die planetaren Grenzen im Blick. Neben dem Klima spielen da auch Themen wie die Verschmutzung der Weltmeere oder der Ressourcen-Verbrauch eine Rolle. Der Grundgedanke der Nachhaltigkeit besagt ja, dass wir nur das verbrauchen, was in demselben Zeitraum nachwachsen kann. Was nützt es uns, wenn wir die Klimaerwärmung stoppen, aber unseren Lebensraum durch Umweltbelastung so stark einschränken, dass wir nicht mehr lebensfähig sind.

Frage: Ist Nachhaltigkeit ein Wettbewerbsvorteil oder laufen unsere Unternehmen Gefahr, gegenüber Ländern, die es nicht so genau nehmen, an Wettbewerbsfähigkeit einzubüßen?

Mantwill: Entscheidend ist, dass wir aus unternehmerischer Sicht immer einen Kunden oder eine Kundin brauchen, der oder die für dieses nachhaltige Produkt zu zahlen bereit ist. Davon hängt auch ab, ob ein Produkt gekauft wird, das in Europa nach Nachhaltigkeitskriterien entsteht, oder ob sie es über irgendwelche Kanäle aus Ländern beziehen, wo andere Kriterien gelten. Für den unternehmerischen Erfolg ist immer die Bedürfnisbefriedigung der Kunden und Kundinnen erforderlich, es sei denn, es gibt gesetzliche Rahmenbedingungen, die Kunden und Unternehmen in eine bestimmte Richtung zwingen. Die Öko-Design-Richtlinie der EU adressiert nur den europäischen Markt und wirft die Frage auf, ob das politisch durchsetzbar ist.

Frage: Können kleinere und mittlere Unternehmen Öko-Vorgaben der EU wie den digitalen Produktpass überhaupt bewältigen?

Mantwill: Dazu haben wir im VDI (Mantwill ist Mitglied im Interdisziplinären Gremium Digitale Transformation) mehrere Beiträge veröffentlicht, in denen wir aufgezeigt haben, dass sich das Datenvolumen für den digitalen Produktpass nicht mehr manuell organisieren lässt, sondern dass wir dafür die Digitalisierung brauchen. Das ist die eine Barriere für kleinere Unternehmen, die sich weder die IT dafür leisten noch das Personal vorhalten können, um diesen Produktpass manuell zu erstellen und zu pflegen. Deshalb haben wir eine etwas ambivalente Einschätzung: Auf der einen Seite sehen wir durchaus Chancen für die politisch motivierte Kreislaufwirtschaft nach der Öko-Design Richtlinie, aber wir sehen auch den Aufwand, der sich dahinter verbirgt und der eine Eintrittsbarriere für KMUs sein kann.

Frage: Lässt sich die Erfüllung von Nachhaltigkeitsvorgaben in den globalen Wertschöpfungsketten überhaupt zuverlässig nachweisen?

Mantwill: Aus den Gesprächen mit den Zuständigen in den Bundesministerien haben wir herausgehört, dass bezüglich der Umsetzung des digitalen Produktpasses noch viele Fragen offen sind. Das gilt auch für die Validierung der Informationen. Insofern ist Ihre Skepsis durchaus angebracht. Wenn sich aus dem digitalen Produktpass ein Geschäftsmodell ableiten lässt, z.B. für die Planung und Steuerung von Kreislauf-Prozessen, dann glaube ich schon, dass der Markt dafür sorgen wird, dass die Daten eine gewisse Gültigkeit haben. Wenn der digitale Produktpass aber nur der Dokumentation dient, führt er zu mehr Bürokratie, die wir eigentlich abbauen wollen.

Frage: Sind denn die Konsument*innen bereit, mehr Geld für nachhaltige Produkte auszugeben?

Mantwill: Das sehen Sie sehr gut am Beispiel der Corona-Pandemie oder des Ukraine-Kriegs, nach denen das Budget vieler Haushalte inflationsbedingt geringer geworden ist. Deshalb werden wieder mehr günstige Produkte vom Discounter gekauft und weniger ökologische Produkte. Der Wohlstand entscheidet darüber mit, wie viel Geld die Kunden und Kundinnen bereit sind, für nachhaltige Produkte auszugeben. Nachhaltigkeit ist deshalb eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, die man nicht nur bei den Industrieunternehmen abladen kann.

Frage: Wie kann man mit Nachhaltigkeit Geld verdienen?

Mantwill: Wenn wir Anlagen schaffen, die mit weniger Energien auskommen oder das CO2 aus der Atmosphäre herausfiltern, haben wir als Anlagenbauer gerade in Deutschland die Möglichkeit, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln. Das war ja auch der Ansatz von Robert Habeck, aber er hat es nicht geschafft, die Gesellschaft und die Unternehmen davon zu überzeugen. Die Idee finde ich gar nicht verkehrt. Die Frage ist nur, wer die Investitionskosten trägt und wer den finanziellen Atem hat, das durchzuhalten.

Frage: Welche Zielkonflikte müssen Unternehmen heute bei der nachhaltigen Produktentwicklung bewältigen?

Mantwill: Aus den 17 Zielen der UN und den daraus abgeleiteten 169 Unterzielen ergeben sich Anforderungen an das Produkt und seine Herstellung, die in hohem Maße im Widerspruch zueinander stehen. Die Herausforderung besteht also darin, diese Widersprüchlichkeit aufzulösen. Das ist ein Entscheidungsprozess, den man nach unserer Meinung gesellschaftlich aushandeln muss, weil das das einzelne Unternehmen nicht leisten kann. Die Unternehmen müssen wissen, in welche Richtung Nachhaltigkeit verstanden werden soll. Wenn wir das mal festgelegt haben, ist die nächste Herausforderung, das gesellschaftliche Bedürfnis in Richtung der vereinbarten Ziele zu lenken. Ein gutes Beispiel für einen solche gesellschaftliche Transformation ist der Ausstieg aus der Atomkraft.

Frage: Was wäre ein klassisches Beispiel für einen solchen Zielkonflikt?

Mantwill: Ein typischer Zielkonflikt zwischen den 17 UN-Zielen ist, dass wir Kinderarbeit vermeiden wollen, aber dafür gegebenenfalls in Kauf nehmen müssen, dass wir den Familien in Dritte-Welt-Ländern eine Erwerbsquelle entziehen und sie in die Armut treiben.

Frage: Hängt Nachhaltigkeit nicht auch von der Intensität der Produktnutzung ab?

Mantwill: Der stabilste Weg zu mehr Nachhaltigkeit ist die Suffizienz, d.h. der Verzicht auf ein Produkt oder seine Nutzung, was natürlich ein gesellschaftliches Problem darstellt, weil wir auch angehalten sind, zu konsumieren. Autos zu sharen und dadurch intensiver zu nutzen, wäre z.B. ökologisch eine sinnvolle Sache. Wir könnten dadurch die Anzahl der Fahrzeuge drastisch reduzieren, aber gleichzeitig würde das Geschäft der Automobilhersteller zurückgehen. Wieder so ein Zielkonflikt.

Frage: Welche Anforderungen ergeben sich aus dem Thema Nachhaltigkeit an PLM-Systeme und den Produktentwicklungsprozess?

Mantwill: Aus meiner Sicht ganz entscheidende. Wie eben erwähnt, lässt sich ein digitaler Produktpass nicht manuell erstellen und pflegen, weil er den gesamten Lebenszyklus einer bestimmten Produkt-Instanz z.B. eines Fahrzeugs begleiten muss. Deshalb ist PLM der Schlüssel zum Thema Nachhaltigkeit. Ein wichtiger Aspekt sind außerdem die Kreisläufe. Sie bedeuten aus unternehmerischer Sicht, dass wir von der Produkt- zur Geschäftsmodell-Entwicklung übergehen, weil wir die Kreisläufe schon in der Produktentwicklung mitdenken müssen. Wir brauchen deshalb eine Erweiterung des PLM in Richtung Nutzungsphase. Produkt-Updates in dieser Phase sind eine wichtige Maßnahme, um Nachhaltigkeit zu unterstützen, weil wir dadurch die Lebensdauer eines Produkts verlängern und weniger Neuprodukte brauchen. Aber dafür müssen wir sicherstellen, dass z.B. bei einem Fahrzeug-Upgrade die Betriebserlaubnis erhalten bleibt und länger genutzte Komponenten sicher durchhalten. Das sind Dinge, die den Entwicklungsprozess erheblich aufwendiger machen.

Frage: Welche Rolle spielt insbesondere das Model-based Systems Engineering (MBSE) für die Entwicklung nachhaltiger Produkte?

Mantwill: MBSE wird eingesetzt, um die Entwicklung komplexer Produkte besser bewältigen zu können. Durch die Nachhaltigkeit werden Produkte komplexer, weil wir zusätzliche Anforderungen berücksichtigen und in Kreisläufen denken müssen, z.B. in Richtung Mietmodelle, Sharing-Konzepte etc. MBSE bietet die Möglichkeit, diese Anforderungen systematisch aufzunehmen, unterstützt die Auflösung von Konflikten und sorgt dafür, dass wir die Umsetzung der Anforderungen besser nachvollziehen und dokumentieren können. Insofern ist die Anwendung eigentlich eine zwingende Voraussetzung für die nachhaltige Produktentwicklung.

Frage: Kann die Künstliche Intelligenz (KI) bei der nachhaltigen Produktentwicklung helfen und wenn ja, wie?

Mantwill: Ja, natürlich. Insbesondere wenn wir an Large Language Models denken, ergeben sich aus meiner Sicht zwei Anwendungsmöglichkeiten: Die eine ist, dass wir z.B. über Chat GPT einen gesellschaftlichen Querschnitt an Informationen abbilden. Das bietet uns die Möglichkeit, über Prompts die Marktakzeptanz von Nachhaltigkeitsaspekten in der Produktentwicklung, die wir als gesellschaftlich wertvoll erachten, zu prüfen. Das andere ist, dass mit Hilfe der KI jede(r) die Möglichkeit hat, defekte Produkte zu analysieren, um Informationen darüber zu erhalten, wie sie repariert werden können und welche Teile ich dafür benötige. Es gibt ja jetzt die gesetzliche Vorgabe, dass Produkte reparaturfähig sein müssen.

Frage: Welchen Beitrag leisten neue Geschäftsmodelle wie die Bereitstellung von Produkten als Service zu mehr Nachhaltigkeit?

Mantwill: Wenn ich ein Produkt als Service anbiete, habe ich einen ganz anderen Einfluss darauf, es so zu entwickeln, dass es besonders lange hält, was nicht heißen soll, dass Firmen ihre Produkte heute bewusst verschleißfreudig entwickeln. Das hängt von den Anforderungen ab, die der Kunde an das Produkt stellt. Im industriellen Kontext sind Firmen immer geneigt, ihre Investitionsgüter rund um die Uhr zu nutzen. Von daher sehe ich hier nicht den großen Nutzeneffekt. Im Consumer-Bereich schon eher. Product as a Service geht in Richtung Kreislauf-Wirtschaft, d.h. in dieses ganze Sharing-Konzept, dass ich Fahrzeuge oder andere Produkte länger nutze. Die Schwierigkeit besteht darin, diese Geschäftsmodelle aufzubauen, d.h. in eine Gesellschaft des Teilens statt des Besitzens zu kommen.

Frage: Wie unterstützt der Forschungsbereich nachhaltige Produktentwicklung am MRP Unternehmen dabei, ihre Nachhaltigkeitsziele zu erreichen?

Mantwill: Ein wesentlicher Beitrag ist, dass wir unsere Forschung eng mit der Lehre verzahnen und unseren Studiengang sehr stark auf Nachhaltigkeit ausgerichtet haben. Wir forschen grundsätzlich mit Industriepartnern zusammen, z.B. über die Erstellung und Publizierung des digitalen Produktpasses. In einem anderen Projekt entwickeln wir MBSE-Modelle für die Anforderungen aus den 169 Unterzielen der UN und zeigen auf, wie man damit besser entwickeln kann. All diese Ergebnisse fließen auch in eine Open-Source-Entwicklungsumgebung ein, in der wir nicht nur Daten und Fakten, sondern auch Tools für den Wissenstransfer zur Verfügung stellen, z.B. einen Gesetzes-Finder, in dem Unternehmen sehen können, welche Gesetze es in Richtung Nachhaltigkeit gibt und welche Produkte künftig nicht mehr zulassungsfähig sein werden. Die Umgebung nennt sich USED und ist im Internet zugänglich.

Herr Prof. Mantwill, herzlichen Dank für das interessante Gespräch. 
(Das Interview führte Michael Wendenburg)


Zur Person

Frank Mantwill leitet seit 2004 die Professur für Maschinenelemente und Rechnergestützte Produktentwicklung (MRP) an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg (HSU). Mantwill studierte an der RWTH Aachen Maschinenbau und promovierte 1992 an der TU Hamburg-Harburg über die KI-gestützten Konstruktion. Von 1992 bis 2003 war er in leitenden Funktionen in der Industrie tätig, zuletzt als Leiter der Fertigungsplanung Karosserie bei Audi. Von 2010 bis 2025 war Mantwill Vorsitzender des VDI-Fachbeirats „Produktentwicklung und Mechatronik“ und seit 2024 der VDI-Gesellschaft Produkt- und Prozessgestaltung. Außerdem ist er Mitglied des Interdisziplinären Gremiums Digitale Transformation des VDI, welches sich mit gesellschaftlich relevanten Fragen der Digitalisierung befasst.

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