PROSTEP | Newsletter
DE EN

Die Automobilindustrie kann nicht alle Software selbst entwickeln

Ein Interview mit Jens Poggenburg

Die Automobilindustrie steht vor einer Reihe von gleichzeitigen Herausforderungen, die üblicherweise mit dem Akronym CASE umschrieben werden. Es steht für Connected, Autonomous, Shared und Electric. Im Interview mit dem PROSTEP Newsletter erläutert Jens Poggenburg, Mitglied der Geschäftsführung bei AVL, wie der global tätige Automobilzulieferer aus Graz mit diesen Herausforderungen umgeht.

Frage: „Reimagining Motion“ ist der Wahlspruch von AVL. Wie autonom stellen Sie sich die Mobilität der Zukunft vor?

Poggenburg: Eine einfache Frage, die nicht einfach zu beantworten ist. Wir können sicherlich sagen, dass das Assisted Driving kommt, weil Funktionen bereits vom Gesetzgeber vorgeschrieben sind. Wenn wir aber über die höheren Level 4 und 5 sprechen, dann haben Sie ja mitbekommen, dass alle Hersteller und Lieferanten ihre ambitionierten Ziele deutlich zurückgefahren haben. Meine persönliche Einschätzung ist, dass das vollautonome Fahren für spezifische Anwendungen und Situationen kommen wird, beispielsweise für Highways, Trucks und vielleicht auch für den öffentlichen Nahverkehr. Ob sich allerdings Anwendungen wie Robo-Taxis durchsetzen werden, ist derzeit noch offen.

Frage: Das Akronym CASE steht für den Wandel der Mobilität. Welcher Buchstabe ist die größte Herausforderung für die deutschen Automobilhersteller?

Poggenburg: Welches CASE-Element die größte Herausforderung ist, hängt vom einzelnen Unternehmen ab und davon, wo es herkommt und wo es derzeit in seinen Entwicklungsprozessen steht. Allgemein lässt sich aber sagen, dass die Gleichzeitigkeit der Veränderung eine immense Herausforderung für die Automobilindustrie und auch für AVL darstellt, und zwar nicht nur technologisch, sondern auch im Hinblick auf die Geschäftsmodelle und Partnerschaften.

Frage: Wie wirken sich Trends wie E-Mobilität oder Sharing auf die automobile Wertschöpfung und Wertschöpfungskette aus? Verändern sich hier die Rollen?

Poggenburg: Absolut, das ist für mich ein mehrdimensionaler Umbruch. Es ändern sich die Rollen zwischen OEMs und Tier-1-Suppliern, es kommen aber auch neue Player in den Markt, die anders agieren als die etablierten OEMs. Und da meine ich nicht nur Start-Ups, sondern auch Player aus China oder von der Westküste der USA. Gerade im Bereich der E-Mobilität haben wir es mit einem relevanten Umbruch in der Wertschöpfungskette zu tun, weil sich chinesische Unternehmen einen sehr umfassenden Zugriff auf die Wertschöpfungskette im Bereich batterieelektrischer Fahrzeuge gesichert haben.

Frage: Meine Frage bezog sich auch auf die Verteilung der Wertschöpfung zwischen Zulieferern und Automobilherstellern. Verlagern die OEMs sie zurück, weil sich Elektrofahrzeuge kostengünstiger entwickeln und bauen lassen?

Poggenburg: Was Sie andeuten, nehmen wir genauso wahr. Die OEMs versuchen nicht nur in der Fertigung, sondern auch in der Entwicklung wieder mehr selbst zu machen. Das ist aber nicht primär dadurch begründet, dass sie ihre Beschäftigung sichern wollen, sondern dass sie Erfahrung in den neuen Technologien sammeln wollen.

Frage: Entwickelt die „Anstalt für Verbrennungskraftmaschinen List“ heute noch Verbrennungsmotoren und Motorenprüfstände?

Poggenburg: Zwei Drittel unseres Umsatzes von ca. zwei Milliarden Euro erwirtschaften wir heute bereits mit neuen Technologien. Das ist ein wahnsinniger Umbruch. Natürlich entwickeln wir noch Verbrennungsmotoren und liefern auch noch Motorenprüfstände, aber stets im Kontext der CO2-Reduzierung. Überall dort, wo es die gesetzlichen Vorgaben und regionalen Rahmenbedingungen erfordern, liefern wir dafür unsere Technologien, Dienstleistungen und Simulationswerkzeuge.
Sie haben in den letzten Monaten sicher auch verfolgt, dass es vermutlich nicht den harten Umstieg vom Verbrennungsmotor zur Elektromobilität geben wird, sondern eine längere Übergangszeit. Umso wichtiger ist, dass die Verbrennungsmotoren, die noch in den Markt gelangen, so emissionsarm wie möglich betrieben werden können.

Frage: AVL hat 2022 in Graz ein Wasserstoff- und Brennstoffzellen-Testzentrum eröffnet. Trauen Sie der E-Mobilität nicht?

Poggenburg: Wir verstehen die Wasserstoff-Technologie als Teil der E-Mobilität. Es gibt unterschiedliche Studien dazu, die sagen, dass die Batterie-Technologie möglicherweise nur eine Übergangs-Technologie ist. Darüber kann man lange philosophieren. Fakt aber ist, dass Wasserstoff als Energieträger absolut relevant ist und dass er im Bereich des Schwerlastverkehrs eine große Rolle spielen wird, und zwar nicht nur als Brennstoffzellen-Antrieb, sondern auch als Wasserstoffmotor. Indien investiert da z.B. sehr stark, nicht nur von Seiten der Industrie, sondern auch von der Regierung. Wasserstofferzeugung und -verteilung sind deshalb ein ganz wichtiges Infrastruktur-Thema. Wir engagieren uns hier sehr stark, weil wir glauben, dass die neuen Antriebstechnologien nicht nur vom Fahrzeug aus, sondern von der ganzen Infrastruktur aus betrachtet werden müssen.

Frage: Welche sind Ihre, gemessen am Umsatz, aktuell größten Geschäfts- bzw. Technologiebereiche?

Poggenburg: Unsere strategischen Geschäftsbereiche sind Engineering, Instrumentation and Test Systems und Simulation. Wenn man über sie hinweg schaut, sind batterieelektrische Antriebe, das Thema Software-defined Vehicle mit Simulation und die Hybridisierung unsere drei wichtigsten technologischen Schwerpunkte.

Frage: Die Simulation ist eine der drei Säulen von AVL. Werden virtuelle Tests den Prüfstand künftig ganz überflüssig machen?

Poggenburg: Wir werden den physischen Test niemals vollständig durch Simulation ersetzen können. Aber es ist keine Frage, dass die Aufwände für physisches Testen durch Simulation dramatisch reduziert werden können und müssen. Wenn sie allein an die Szenarien für das autonome Fahren denken – die können gar nicht alle getestet werden. Hier ist Simulation unvergleichbar, um auch an eine handhabbare Größenordnung von Varianten zu kommen.

Frage: Welche Rolle spielt die Software bzw. die Software-Entwicklung für das Geschäft von AVL?

Poggenburg: Dazu möchte ich zunächst sagen, dass wir kein reines Software-Unternehmen sind und auch nicht sein werden. Unsere Stärke liegt immer in der Verbindung von der Software zur Domäne und zum Produkt. Wenn wir über Software sprechen, sprechen wir über die Tool-Chain, das Thema Automatisierung, aber auch über die Software im Fahrzeug. Von den Investitions- und Entwicklungstätigkeiten spielt die Software heute schon eine bedeutende Rolle - ich würde nicht sagen, mehr als die Hälfte des Umsatzes, aber es geht in die Richtung. Und mittel- und langfristig wird ein Großteil unseres Geschäftsvolumens von der Software abhängen. Schließlich ist erwähnenswert, dass bereits heute ca. 3.000 Mitarbeiter*innen im Bereich Software arbeiten.

Frage: Wo liegen die Herausforderungen bei der Entwicklung der Fahrzeug-Software, mit der sich einige deutsche Automobilhersteller so schwertun?

Poggenburg:  Die wesentlichen Herausforderungen sind Geschwindigkeit, Kosten und Compliance. In der Software-Entwicklung reden wir über Zykluszeiten, die zehnmal schneller sind als bei der Hardware, und die Software bleibt in einem kontinuierlichen Update-Prozess. Eine weitere Herausforderung, die ich in diesem Zusammenhang für wesentlich halte, sind Identifikation, Schaffung und das Aufrechterhalten eines geeigneten Partnernetzes. Die Automobilhersteller und auch wir erkennen, dass wir nicht alles selbst machen können. Gerade was das Betriebssystem im Fahrzeug anbelangt, gibt es in den letzten Monaten sehr starke Veränderungen. Das, was die Automobilindustrie früher allein machen wollte, macht sie jetzt zusammen mit den Big Playern im Markt. Und auch wir kooperieren mit Partnern wie Microsoft.

Frage: Sind nicht auch die Entkopplung und Abstimmung der Software- und der Fahrzeug-Hardware-Entwicklung eine Herausforderung?

Poggenburg: Die Tatsache, dass diese Prozesse entkoppelt sind, ist nicht die größte Herausforderung. Die eigentliche Herausforderung ist zu identifizieren, was ich wo miteinander verzahnen muss, wie die Schnittstellen und die Frequenzen des Zusammenspiels zu definieren sind. Dafür brauchen Sie eine exzellente Integrationskompetenz und durchgängige Datenmodelle, nicht nur zwischen Soft- und Hardware, sondern auch zwischen dem physischen und virtuellen Bereich.

Frage: Wie gut sind Hard- und Software-Entwicklung bei AVL integriert? Arbeiten Sie durchgängig modellbasiert und agil?

Poggenburg: Ich würde Ihnen gerne mit einem klaren Ja antworten, aber die Realität ist, dass auch wir mit der Legacy kämpfen. Von der Methodik her kann ich das bejahen; wir haben schon vor vielen Jahren die Integrated-Open-Development-Platform eingeführt, die methodisch genau beschreibt, was erforderlich ist, um die Bereiche zu verknüpfen. Die Methodik befindet sich derzeit in der Umsetzung, und da werden wir nicht Wochen, sondern das eine oder andere Jahr benötigen. Was man aber sicher sagen kann ist, dass wir agil arbeiten.

Frage: AVL ist im letzten Jahr eine strategische Partnerschaft mit Microsoft eingegangen. Was versprechen Sie sich davon?

Poggenburg: Das sind im Wesentlichen vier Punkte: Einmal eine deutliche Beschleunigung in der Skalierung, mit der wir unsere Software-Lösungen in den Markt bringen. Das Zweite ist, dass wir Methoden und Verfahren, z.B. in den Bereichen Data Analytics und Artificial Intelligence, in unsere Lösungen einbinden können, ohne alles selbst entwickeln zu müssen. Das ist ein Paradigmenwechsel, der für uns nicht ganz einfach ist. Drittens versprechen wir uns davon den Austausch mit anderen Unternehmen, die Partner von Microsoft sind und ihre Geschäftsmodelle auch schon in Richtung Cloud-basierten Lösungen gebracht haben. Und der letzte Punkt ist, dass wir in Microsoft einen kritischen Reflexionspartner für unsere kontinuierliche Verbesserung haben, der eine relevante Außensicht einbringt.

Frage: Wofür nutzen oder werden Sie die Künstliche Intelligenz einsetzen?

Poggenburg: Wir setzen sie schon über alle Bereiche ein, wenn auch noch nicht umfassend. Das heißt in der eigenen Entwicklung, um schneller und deutlich effizienter zu werden. Hier haben wir schon die ersten Indikatoren, dass wir bis zu 25 Prozent effizienter werden können. Wir setzen sie in der Prozessoptimierung ein. Wir haben vielfältige Prozesse weltweit, wo es Abweichungen zwischen Ist und Soll gibt, die mit Hilfe der KI schnell identifiziert und korrigiert werden können. Dann setzen wir sie im Service ein, nicht nur für den Chatbot im First Level, sondern auch als Solution Finder im Self Service des Kunden. Auch in der IT wird sie intensiv genutzt, und wir integrieren sie in unsere Software-Lösungen für den Kunden, z.B. für das Szenario-Management beim autonomen Fahren.

Herr Poggenburg, vielen Dank für das interessante Gespräch.

(Das Interview führte Michael Wendenburg)


Zur Person

Jens Poggenburg ist seit 2019 Mitglied der AVL-Geschäftsführung und zuständig für Software Products, ADAS, Emission and Services im strategischen Geschäftsbereich Instrumentation and Test Systems. Nach dem Studium des Maschinenbaus an der RWTH Aachen arbeitete er fast 30 Jahre lang in leitenden Positionen in der Automobilindustrie, unter anderem für LMS, bevor er zu AVL wechselte, wo er zunächst den Bereich Customer Services in Deutschland und später dann weltweit leitete. Neben seiner Tätigkeit bei AVL ist er Gründungsmitglied des Styrian Service Clusters, Vorstandsmitglied des Kundendienstverbands Österreich und des prostep ivip Vereins sowie Beirat der Fraunhofer Gesellschaft Austria. Außerdem lehrt er als Dozent an der Fachhochschule CAMPUS 02 in Graz.

© PROSTEP AG | ALL RIGHTS RESERVED | IMPRESSUM | DATENSCHUTZERKLÄRUNG HIER KÖNNEN SIE DEN NEWSLETTER ABBESTELLEN.