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PDM/PLM ist Basis für die digitale Transformation

Ein Interview mit Dr. Kai Korthals

Die Produkte von Agrartechnik-Hersteller CLAAS und damit auch die Entwicklungsprozesse werden komplexer. Im Interview mit dem PROSTEP-Newsletter erläutert Dr. Kai Korthals, Head of Digital Product Engineering, wie CLAAS die wachsende Komplexität besser beherrschbar machen will und welche Rolle PDM/PLM für die Digitalisierungsstrategie des Unternehmens spielt.

Frage: Welche Rolle spielen vernetzte Produkt-Service-Systeme heute für das Produktportfolio von CLAAS?

Korthals: Das hängt davon ab, was sie unter Produkt-Service-System verstehen. Wenn Sie damit ergänzende Dienstleistungen wie z.B. Predictive Maintenance im After Sales oder Features wie Software-Updates over the Air meinen, dann hat das eine wachsende Bedeutung für uns und ist zugleich eine große Herausforderung.

Frage: Welche neuen Anforderungen ergeben sich daraus für Ihre Produktentwicklung?

Korthals: Insbesondere müssen wir auf Basis lösungsneutraler Kundenanforderungen die Software-Entwicklung von Anfang prozessual und methodisch gleichgewichtig integrieren. Deshalb hat das Thema Model-based Systems Engineering (MBSE) für uns eine große Bedeutung. Darüber hinaus feiern scheinbar profane Themen wie die Stammdatenqualität, die uns beschäftigen, solange es PDM gibt, eine Renaissance. Auch das Thema 3D-Durchgängigkeit, das an sich nicht neu ist, bekommt eine neue Dimension. Wir kooperieren plötzlich mit Spieleherstellern wie GIANTS, die für ihre Farmsimulatoren unsere 3D-Modelle verwenden und uns im Gegenzug gerenderte Modelle für unsere Vertriebsaktivitäten zur Verfügung stellen. Gerade durch Corona sind Bedarfe verstärkt worden, was z.B. virtuelle Vertriebsgespräche und Schulungen mit Kunden anbelangt, denen wir anhand von animierten Renderings z.B. den Zugang zur Kabine zeigen.

Frage: Was bedeutet das für Ihre Digitalisierungsstrategie? Welches sind die wesentlichen Handlungsfelder?

Korthals: Eckpfeiler unserer Digitalisierungsstrategie sind die Modellierung und Vernetzung mit MBSE, die Visualisierung, d.h. das Thema Digital Continuity mit Fokus auf 3D und die simulative Absicherung, die man bei der ganzen Diskussion um die digitale Transformation nicht vergessen sollte. D.h. wir haben eigentlich immer noch die gleichen Basisthemen wie vor zehn Jahren. Was sich verändert hat ist die Vernetzung dieser Themen untereinander und nicht nur der Themen, sondern auch der Datenmodelle. Diese Vernetzung kann ich über MBSE abbilden, brauche darüber hinaus aber auch die Verknüpfung zu den Aufgaben im Projektmanagement oder zur Konfiguration für die Produktion. Damit wären wir beim Thema Traceability.

Frage: Ist die Nachverfolgbarkeit mehr durch die Komplexität der Produktentwicklung oder die gesetzlichen Nachweispflichten getrieben?

Korthals: Die Nachverfolgbarkeit im Zusammenhang der funktionalen Sicherheit hat zwar nach wie vor ihre Bedeutung, aber wichtiger wird mit Blick auf die erwähnten Produkt-Service-Systeme oder auf autonome Systeme die Beherrschung der technischen, prozessualen und organisatorischen Komplexität. Man kann die Komplexität nicht negieren, sondern muss sie beherrschbar machen. Dafür brauchen wir MBSE und ein lebenszyklus-übergreifendes Konfigurationsmanagement, um die Zusammenhänge besser verständlich machen.

Frage: Sie sagten eben MBSE sei für sie ein wichtiges Thema. Welche Haupttreiber sehen sie für diesen Ansatz?

Korthals: Es gibt sicher mehrere Treiber, die sich aber unter dem Begriff der Komplexität zusammenfassen lassen. Es ist der wachsende Software-Anteil, die vernetzte Entwicklung von produktübergreifenden Features sowie die globale verteilte Entwicklung, die im Endeffekt zu einer steigenden Komplexität auf Produkt-, Prozess- und Organisationsebene führen.

Frage: Man hat den Eindruck, dass CLAAS beim Thema MBSE eine gewisse Vorreiterrolle spielt?

Korthals: Das müssen andere beurteilen, aber wir sind natürlich in vielen Arbeitskreisen vertreten und sehen was andere Unternehmen machen. Deshalb würde ich mir mal anmaßen zu behaupten, dass wir das Thema sehr ganzheitlich angehen und da schon recht weit sind.

Frage: Wie weit ist das, was Sie im Systems Engineering Solution Lab validiert haben, schon in den Produktentstehungsprozess implementiert?

Korthals: Die Themen gehen jetzt sukzessive live. Wir befinden uns gerade im  Rollout für das Validierungsmanagement. Allerdings migrieren wir nicht alle laufenden Entwicklungsprojekte im Big Bang auf den neuen Prozess und die neue Tool-Welt, weil das die Projekte hemmen würde. Stattdessen führen wir das nach und nach über die Projekte ein bis irgendwann der Tipping Point kommt, weil die Anwender in den Querschnittsfunktionen einen starken Bedarf haben, die Nutzung von Parallelsysteme zu vermeiden.

Frage: Spielt das Thema PDM/PLM für Ihre Digitalisierungsstrategie noch eine wichtige Rolle?

Korthals: Ja, absolut. Unsere Digitalisierungsstrategie hat drei große Säulen. Zum einen wollen wir die Interaktion am Touch Point mit dem Kunden digitalisieren und dadurch unabhängig von Zeit und Ort machen. Die zweite ist das Empowerment unserer Mitarbeiter, d.h. wir wollen die digitale Transformation als Change Prozess vorantreiben. Und die dritte große Säule ist das Thema Digital Enterprise, das wir bis zu Industrie 4.0 runterbrechen. PDM/PLM ist in vielen Fällen der Enabler, der Binnensicht, Außensicht und Empowerment miteinander verbindet. Ohne diese Basis fällt die digitale Transformation wie ein Kartenhaus in sich zusammen.

Frage: Sie arbeiten bei der Umsetzung Ihrer Digitalisierungsstrategie sehr eng mit Dassault Systèmes zusammen. Ist Ihre breite PDM/PLM-Vision denn mit einer monolithischen Systemlandschaft darstellbar?

Korthals: Ihre Frage ist verständlich. Die PLM-Experten postulieren seit Jahren, dass monolithische Systeme tot sind. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass wir uns in eine gewisse Abhängigkeit begeben, aber wir sind mit Dassault bislang sehr gut gefahren. Man darf nicht vergessen, dass wir nicht nur Kunde, sondern strategischer R&D-Partner sind und User Stories für die Entwickler in Vélizy schreiben, so dass unsere Bedarfe sehr schnell umgesetzt werden. Außerdem beziehen wir nicht alle Experten- und Autorensysteme von Dassault. Es gibt spezifische Umgebungen für Software-Entwicklung oder Simulation, die wir nicht ablösen werden. Auf der Systemebene hingegen bietet der monolithische Ansatz für uns mehr Chancen als Risiken.

Frage: Für welche Anwendungsfälle nutzen Sie heute schon Digital Twins?

Korthals: Den Begriff Digital Twin nutzen wir bei CLAAS noch nicht, auch aus der Erfahrung bei der Einführung des Systems Engineerings heraus. Als wir damit vor fünf Jahren anfingen, haben wir versucht zu vermeiden den nächsten großen Begriff zu prägen, ohne dass ein konkreter Nutzen für den Anwender ersichtlich ist, denn das schreckt nur ab. Wir hatten zwar unsere Strategie im Hinterkopf, sind das Thema aber sehr Use Case-bezogen angegangen. Ähnlich machen wir das auch beim Digital Twin. Wir haben viele, ganz konkrete Anwendungsfälle z.B. die Verlagerung der Wartungsdokumentation in einen kinematisierten DMU, um einen Servicetechniker in Usbekistan ohne Worte zu zeigen, wie er den Ölfilter wechselt. Aber wir nennen das nicht Digital Twin.

Frage: Welche Bedeutung hat das Cluster Ostwestfalen für CLAAS?

Korthals: Das Cluster ist für uns extrem wichtig. Aus unserem Systems Engineering Solutions Lab haben wir gemeinsam mit dem Fraunhofer IEM Forschungsprojekte gestartet, von denen eines im it’s owl aufgegangen ist. Das andere ist das MOSYS-Projekt für Mensch-orientiertes Systems Engineering, das vom BMBF gefördert wird. Die Zusammenarbeit mit anderen Partnern des it’s owl wie z.B. Miele ermöglicht es uns, unsere künftigen Bedarfe und Systemanforderungen zu diskutieren. Durch die Forschungsprojekte haben wir außerdem zusätzliche Leute für unsere Solution Labs einstellen können, was uns hilft, schneller zu werden.

Frage: Welche künftigen Bedarfe und Systemanforderungen sehen Sie da?

Korthals: Wie bereits erwähnt, ist die Vernetzung und Visualisierung von Informationen aktuell ein großer Treiber für uns. Nur die Kombination von Vernetzung und Visualisierung macht die Komplexität wirklich verständlich und damit beherrschbar. Wir haben in unseren Solution Labs herausgefunden, dass wir Datenbanken aufbauen können, um bestimmte Artefakte miteinander zu vernetzen, Anforderungen mit Testfällen, mit Architekturmodellen, mit CAD-Modellen, mit Schaltplänen etc. Das versteht nur am Ende kein normaler Mensch mehr. Deshalb müssen wir diese Beziehungen anwendungs- und anwenderspezifisch herausfahren können und nach Möglichkeit am 3D-Modell visualisieren, um die Komplexität schnell standort-, sprach- und kompetenzübergreifend verständlich zu machen.

Herr Korthals, wir danken Ihnen für das interessante Gespräch. (Das Interview führte Michael Wendenburg.)

 

 



Über Kai Korthals

Dr. Kai Korthals arbeitet seit 2014 für Agrartechnik-Hersteller CLAAS und ist aktuell Head of Digital Product Engineering. In dieser Funktion ist er mit seinem Team für das CLASS Engineering-System verantwortlich. Es umfasst die Engineering-Prozesse, Methoden, Datenmodelle und Anwendungen für CAD, PDM/PLM und Systems Engineering. Korthals absolvierte ein Studium zum Wirtschaftsingenieur mit Schwerpunkt Maschinenbau und Produktionstechnik an der RWTH Aachen und promovierte danach am Werkzeugmaschinenlabor der RWTH im Themenfeld „Fertigungsgerechte Produktentwicklung“.

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