Frage: Frau Prof. Hölzle, was verstehen Sie unter dem Metaverse bzw. dem Industrial Metaverse?
Hölzle: Das Metaverse ist für mich die Verbindung von virtueller und realer Welt und, wenn wir über das Industrial Metaverse sprechen, das Zusammenspiel so genannter Extended-Reality-bzw. Virtual-Reality-Technologien mit weiteren Hardware- und Software-Technologien. Ich würde das Ganze somit mehr als Oberbegriff für ein System unterschiedlicher Enabling-Technologien sehen.
Frage: Das Metaverse ist nicht der erste Versuch, eine virtuelle Welt zu erschaffen. Was unterscheidet es z.B. von Second Life?
Hölzle: Für mich ist der erste Unterschied, dass das Metaverse und gerade das Industrial Metaverse nicht rein virtuell ist, sondern immer in Verbindung mit der realen Welt funktioniert. Ich bewege mich in der realen Welt und habe meine VR-Brille aufgesetzt oder Sensorik an meinem Körper, d.h. ich habe ein mit Technologien ausgestattetes Umfeld, das sich in den virtuellen Raum erstreckt. Der zweite Unterschied sind die unterschiedlichen Technologien, die damals noch nicht so weit waren.
Second Life war eine Spiegelung unserer echten Welt, in die wir als Menschen virtuell eintauchen und Eigentum, Grundstücke oder Kunst kaufen konnten. Das ist aber nur ein Teil des Metaverse und hat eigentlich nichts mit dem Industrial Metaverse zu tun. Im Industrial Metaverse geht es um den digitalen Zwilling, die digitale Produktion, das Zusammenspiel unterschiedlicher Produktdatensysteme und Plattformen.
Frage: Üblicherweise unterscheidet man zwischen Consumer, Commercial und Industrial Metaverse. Welches bietet das größte Wachstumspotenzial?
Hölzle: Da sind sich die Experten nicht ganz einig. Die Wachstumsprognosen für alle drei Bereiche bewegen sich im Bereich zwischen 180 Milliarden und fünf Billionen US-Dollar - da steckt viel Phantasie drin. Ich sehe das größte Potenzial im Industrial Metaverse aufgrund der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten im Kontext B2B. Im Consumer-Bereich ist noch nicht ganz klar, wie das Geschäftsmodell dahinter aussieht. Deshalb bin ich vorsichtig bei der Einschätzung des Potenzials.
Frage: Sie haben zusammen mit anderen Autoren einen Beitrag über die Potenziale des Metaverse für die Entwicklung von Smart Services geschrieben. Sehen Sie hier das größte Potenzial?
Hölzle: Da muss ich etwas weiter ausholen. Das Industrial Metaverse ist ein System of Systems, das unterschiedliche Technologien verbindet. Wir haben aber auch das Thema Produkt-Service-Systeme bzw. Dienstleistungen für Produktionssysteme, denn wir wissen ja, dass das physische Produkt beim ganzen Themenfeld der Datenökonomie, der Digitalisierung und der digitalen Geschäftsmodelle nur noch ein Teil ist. Smart Services sind im Kontext des Metaverse ein wichtiger Teil, gerade wenn wir über neue Geschäftsmodelle nachdenken. Viele Dinge werden künftig digital im Metaverse angeboten, so dass man wunderbar darüber diskutieren kann, ob das dann noch ein Produkt oder eine Dienstleistung ist. Insofern sind Smart Services kombiniert mit Produkten und mit Produktion ein Resultat des Industrial Metaverse.
Frage: Ist das Industrial Metaverse nicht alter Wein in neuen Schläuchen? In der Produktentwicklung werden virtuelle Modelle und immersive Techniken doch seit Jahren genutzt?
Hölzle: Das ist genau das, was wir den Unternehmen sagen, denn die wissen häufig nicht, was das Metaverse ist und haben Angst, dass sie das nicht beherrschen. In unserer CyberLänd-Studie haben wir deshalb darauf hingewiesen, dass vieles von dem, was das Industrial Metaverse ausmacht, eigentlich schon existiert.
Wir sehen allerdings noch viele Systembrüche zwischen Produktentwicklungssystemen, Produktdatenmanagementsystemen, PLM-Systemen, wobei inzwischen versucht wird, das über Plattformen wie Manufacturing-X zu konsolidieren. Die Vision ist, dass das Industrial Metaverse diese nahtlose Integration ermöglichen wird und dass wir ein einheitliches Datenmodell und einheitliche Datenstandards haben, die auf diesen Plattformen liegen und von den einzelnen Systemen angesprochen werden können.
Frage: Initiativen wie Gaia-X oder Manufacturing-X können also eine wichtige Hilfestellung für das Industrial Metaverse sein?
Hölzle: Ja. Mir ist sehr daran gelegen, dass wir hier europäische Standards schaffen und europäische Vereinbarungen treffen, aber wir wissen ja alle, dass Gaia-X bislang noch kein Erfolgsmodel ist.
Frage: 3D-Modelle sind eine wesentliche Voraussetzung für das Metaverse. Von Produktionsanlagen gibt es diese Modelle oft nicht oder sie sind nicht aktuell?
Hölzle: Das ist natürlich ein zentrales Problem, denn ohne diese Modelle brauchen wir auch nicht über virtuelle Kollaboration nachzudenken. Wir müssen aber irgendwo anfangen. Ich würde mir wünschen, dass wir, wenn wir etwas neu entwickeln oder neue Maschinen beschaffen, den digitalen Zwilling von Anfang an mitdenken. Bei bestehenden Anlagen stehen wir vor der Herausforderung, wie wir sie digitalisieren. Es fehlen uns heute einfach zu nutzende Tools, um diese Zwillinge schnell und mit wenig Aufwand zu erzeugen. Da müssen wir sowohl von staatlicher Seite als auch von Seiten der Unternehmen noch mehr in die Forschung investieren.