Frage: Herr Professor Dr.-Ing. Stark, Sie haben letztes Jahr ein Buch über die Virtuelle Produktentstehung geschrieben? Was hat Sie dazu bewegt?
Stark: Es waren eigentlich drei Motivationen: Zum einen die Frage, wie man Personen aus unterschiedlichen Bereichen - Studierenden, Managern, Fachleuten – die virtuelle Produktentstehung mit den unterschiedlichen Technologien verständlich machen kann. Die Zweite ist die Herausforderung, wie man diese Technologien nutzt, wie man sie einführt, kulturell pflegt und die Vorgehensweisen ändert. Das damit in Einklang zu bringen, wie die Welt in Zukunft aussehen wird und welche Dinge neu dazu kommen, war die dritte Motivation.
Frage: Peter Bilello von CIMdata hat kürzlich gesagt, dass die Produktentwicklung so wie wir sie kennen tot sei. Würden Sie das unterschreiben?
Stark: Tot ist ein provokanter Begriff, aber ich würde zustimmen, dass sie nicht mehr zukunftsfähig ist. Erstens schaffen neue Technologien aus dem IT-Umfeld neue Möglichkeit und verführen dazu, sie gewinnbringend einzusetzen. Die Künstliche Intelligenz ist ein Beispiel.
Dann gibt es bei den Produkt-Systemen und Anlagen, die wir entwickeln, technologische Veränderungen und Änderungen in der Anwendung, zum Beispiel durch neue Antriebskonzepte oder neue Services. Der dritte Trend ist das Thema Nachhaltigkeit, das aufgrund gesetzlicher Rahmenbedingungen und der gesellschaftlichen Akzeptanz konkreter wird. Daraus ergeben sich neue Themen, die die Ingenieure bei der Entwicklung beachten müssen.
Frage: Welche Herausforderungen ergeben sich aus Trends wie der Servitization konkret für die Unternehmen?
Stark: Der Trend zur Servitization bedeutet, dass sich die Ingenieure gerade bei der Entwicklung von langlebigen Investitionsgütern mehr Gedanken über die Nutzung machen müssen. Sie müssen überlegen, wie sie einen Service erbringen können, und eventuell auch mitbekommen, was draußen im Feld passiert. Die Unternehmen stehen außerdem vor der Herausforderung, ihre Entwicklungsfähigkeit durch die vielen Arten von Daten und Informationen zu steigern. Ihre IT-Abteilungen müssen ein immer größeres Portfolio von Applikationen integrierbar machen Und wir haben dadurch, dass wir größere System of Systems bauen wollen, im Systems Engineering wesentlich komplexere Modellwelten.
Frage: Wenn ich Sie richtig verstehe, geht es um den Digital Thread, d.h. die system- und domänenübergreifende Verknüpfung von Informationen?
Stark: Der digitale rote Faden wird marketingmäßig aufgebauscht. Letztlich geht es um die Enterprise Architecture Integration. Die Anbieter gehen alle dahin, größere System-Architekturen aufzubauen. Sie heben ihr Portfolio auf eine Plattform und bieten den Anwendern ein Ökosystem an, in dem sie coole Dinge machen können. Aber dafür müssen die Kunden mit ihren Daten und Modellen in dieses Ökosystem. Trotzdem müssen sie die Modelle aber zwischen diesen Datenräumen hin- und herschieben können. Dafür haben wir auch im im prostep ivip Verein noch keine Lösungen gefunden, weil es über das föderierte PLM hinausgeht.
Frage: Eigentlich sollen doch Initiativen wie GAIA-X oder Catena-X diese gemeinsamen Datenräume schaffen?
Stark: Catena-X hat aufgrund des Leads der beiden süddeutschen Automobilisten Fahrt aufgenommen und erwartet, dass GAIA-X Ergebnisse liefert. Aber es ist noch nicht klar, wie schnell die Provider hier in Europa auf diesen Protokollarten ihre Datenräume aufbauen oder ob die Amerikaner das in ihren Ökosystemen anbieten werden. Ein anderes Thema ist die Semantik, die wir in den Plattformen abbilden wollen. Der prostep ivip Verein denkt zum Beispiel über einen eigenen Engineering Data Space nach.
Frage: Die PLM-Hersteller bauen ihre Plattformen vor allem durch Übernahmen aus. Ist das der richtige Weg zu modularen, föderierten Architekturen?
Stark: Ich versuche, das neutral zu sehen. Die Hersteller sind natürlich daran interessiert, ihre Plattformen und Architekturen mindestens zehn bis 15 Jahre businessfähig zu halten. Auf der anderen Seite ist das Oligopol der Lösungsanbieter ein Problem für die gesamte Community, weil das Plug & Play nicht so funktioniert, wie die Anwender das gerne hätten und bräuchten. Vor allem kleinere und mittlere Unternehmen haben das Problem, ihre Architektur halbwegs flexibel zu halten, weil sie nicht die Stäbe eines Großunternehmens haben.
Frage: Einer der Trends, den Sie ansprachen, ist die KI, die durch Chat GPT in den Schlagzeilen ist. Welchen Einfluss wird sie künftig auf die Produktentstehung haben?
Stark: Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder Entwicklungsingenieur in zehn Jahren einen Bot als Assistenten haben wird, und Teil dieser Bot-Systeme werden KI-Elemente sein. Die Frage ist, wie wir die Ingenieure bzw. Entwicklungsteams so qualifizieren können, dass sie einerseits ihre Entwürfe schneller und eindeutiger erstellen, aber andererseits ihren gesunden technischen Sachverstand behalten. Das Problem bei diesen KI-Lösungen ist nämlich, dass man fast immer ein Ergebnis bekommt und selbst hinterfragen muss, inwieweit man darauf vertrauen kann. Vorschläge, was man beim Modellieren anders machen kann, werden aber zu normalen Werkzeugen werden.