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Die Future PLM-Thesen waren für uns eine wichtige Orientierungshilfe

Ein Interview mit Thomas Kriegel

Mitte 2016 Jahres veröffentlichte eine Runde erfahrener PLM-Experten ein Thesenpapier über die Zukunft von PLM im Zeitalter der Digitalisierung. Die Thesen dienten Audi als Orientierungshilfe für die Neugestaltung der PLM-Landschaft und -Prozesse auf dem Weg zum Systems Engineering. Thomas Kriegel, Leiter Prozess-und Methodenentwicklung Systems Engineering bei Audi, erläutert ihren praktischen Nutzen.

Frage: Sie sagten neulich, dass die bestehenden Entwicklungsprozesse nicht mit der exponentiellen Entwicklung von Produkten und Services mithalten. Wie ist das gemeint?

Kriegel: Wir erleben technisch und technologisch heute in allen Bereichen gefühlt exponentielle Entwicklungen, weil die Zeitabschnitte, in denen Innovationen auf den Markt kommen, immer kürzer werden. Wenn man solche Entwicklungen, die sich noch dazu gegenseitig beeinflussen und verstärken – wie z. B. Elektromobilität und autonomes Fahren –  auf die Straße bringen will, braucht man auch eine exponentielle Form der organisatorischen und prozessualen Anpassung. Da stehen wir vor großen Herausforderungen.

Frage: Sie wollen diese Herausforderungen vor allem mit Hilfe des Systems Engineerings schließen?

Kriegel: Genau. Wir wollen mit Systems Engineering nicht nur die Komplexität der Produktentwicklung besser beherrschbar machen, sondern auch die Nachverfolgbarkeit unserer Entwicklungsschritte sicherstellen, die gerade für neue Themen wie das autonome Fahren extrem wichtig sind. Es gibt bereits seit längerem bei Audi einzelne Funktionen, die mit Systems Engineerings-Methoden entwickelt werden. Für komplexere Produktentwicklungen wie das hochautomatisierte Fahren reicht es aber nicht mehr aus, einzelne Funktionen damit zu entwickeln. Wir müssen sie mit dem Backend-IT-System und damit Connected Car-Diensten verbinden, eventuell auch Third-Party-Anbieter einbinden. Dazu müssen wir es schaffen, dass alle Disziplinen das Systems Engineering nach derselben Methodik einsetzen.

Frage: Welche Funktion hatten die Future PLM-Thesen für die Initiative „Audi Systems Engineering“? Lieferten sie nur Denkanstöße oder dienten sie als Leitfaden?

Kriegel: Wir adressieren mit dem Audi Systems Engineering den Dreiklang aus Prozessen, Methoden und IT-Tools. PLM ist da zunächst nur eine Facette – die der Tools. Die PLM-Thesen gehen jedoch deutlich über die klassischen Tools hinaus und decken viele weitere Aspekte ab, die für uns wichtig sind. Sie haben uns dabei unterstützt, unser Programm inhaltlich runder zu machen. Im Thesenpapier sind meines Erachtens alle Erfolgsfaktoren aufgeführt, die zu berücksichtigen sind.

Frage: Wie sind Sie überhaupt auf die Thesen gestoßen, die ja nicht gerade offensiv kommuniziert wurden?

Kriegel: Wir sind Mitglied des prostep ivip-Vereins, der die Thesen ja veröffentlicht hat, und pflegen eine enge Beziehung zum Verein. Aber ich hätte mir schon gewünscht, dass sie mit mehr Selbstbewusstsein kommuniziert worden wären, weil da sehr viel drinsteckt. Es lassen sich auf der Basis der Thesen viele innerbetriebliche und unternehmensübergreifende Projektansätze diskutieren.

Frage: Welche Thesen waren für Sie besonders hilfreich?

Kriegel: Sehr wichtig fanden wir die Thesen zum Thema digitale Transformation, weil der kulturelle Wandel ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist, auch wenn er schwer zu greifen ist. Nur die Technik zu diskutieren reicht nicht aus, denn wir müssen bei Audi in der Technischen Entwicklung rund 10.000 Mitarbeiter auf dem Weg mitnehmen. Was uns außerdem sehr geholfen hat, ist die klare Aussage, dass monolithische Systeme ausgedient haben. Das war sehr hilfreich, weil in vielen Köpfen immer noch die Vorstellung steckt, dass man alles mit einem bestimmten System lösen kann. Wir haben von Anfang an klar gemacht, dass das mit einem monolithischen Ansatz nicht funktionieren kann, dass es ein Konzert vieler Prozesse und Tools sein wird. Damit war gleichzeitig klar, dass wir das nicht mit ein paar Mitarbeiter stemmen können, sondern dafür mehrere Hundert Mitarbeiter aktiv involvieren müssen.

Frage: Wie wird denn die PLM-Architektur künftig aussehen und wie wollen Sie das Problem zwischen Alt und Neu lösen?

Kriegel: Das definieren wir gerade in unserem Programm Audi Systems Engineering. Und wir tun das als Bestandteil des VW-Konzerns. Es gibt nicht nur in der Marke, sondern auch im VW-Konzern so genannte Legacy-Systeme und damit eine höhere Komplexität als bei anderen OEMs. Wir erleben ständig neue Konstellationen der Zusammenarbeit im Konzern, mit Joint Ventures oder angeschlossenen Partnern und müssen unsere Systeme jedes Mal aufeinander abstimmen. Deshalb können wir uns keine PLM-Architekturen mehr leisten, die in sich gekapselt sind. Ohne Berücksichtigung offener Standards wären wir im Konzern schon nicht mehr arbeitsfähig. Deshalb fordern wir Offenheit im Sinne des Code of PLM Openness.

Frage: Wird das bei der Beschaffung schon berücksichtigt?

Kriegel: Wenn wir heute neue PLM-Hersteller beauftragen, ist das eine unserer ersten Anliegen im Lastenheft. Das ist für uns ein Muss. Wir haben im VW-Konzern so ziemlich alles im Einsatz, was es an PDM- und PLM-Systemen gibt, und müssen ständig dafür Sorge tragen, dass auch System-Wettbewerber miteinander agieren.

Frage: Ist Future PLM, wie eine der Thesen fordert, bei Audi schon Chefsache?

Kriegel: Definitiv. Wir haben eine große Transformations-Offensive gestartet, die das Thema Systems Engineering in den Mittelpunkt stellt, mit dem Ziel, uns fit  zu machen für die sehr anspruchsvollen Themen wie autonomes Fahren. Sie ist im Geschäftsbereich der Technischen Entwicklung aufgehängt und wir berichten dem entsprechenden Bereichsvorstand. Wir gestalten die Entwicklungsprozesse neu und digitalisieren diese konsequent. Das wird auch Auswirkung darauf haben, wen wir in Zukunft einstellen. Systems Engineering soll den Transformationsprozess in unserem Hause nicht nur ermöglichen, sondern treiben.

Frage: Eine der Thesen lautet, dass Future PLM nicht an der Unternehmensgrenze Halt machen darf. Wie werden Sie Ihre Zulieferer in das Systems Engineering einbinden?

Kriegel: Zum einen wollen wir die Standardisierungsinitiativen des prostep ivip-Vereins sowie des VDA zum Austausch von SE-Artefakten stärker unterstützen. Wir brauchen Standards wie FMI (Functional Mockup Interface), die wir gemeinsam mit unseren Lieferanten und anderen Automobilherstellern gestalten werden. Zum anderen wollen wir ausgewählte Lieferanten und ihre Best Practices von Anfang an in unsere Bebauung mit einbinden. Es gibt einige, von denen wir lernen können, und andere, die von uns lernen können, und das wollen wir in einer Community gestalten. Wir haben Standardisierung in der Vergangenheit oft als Zusatzaufgabe betrachtet und müssen umdenken. Das sehen wir als Grundlage unserer Arbeit.

Frage: Sie haben auch die These aufgegriffen, dass Future PLM kein IT-Projekt sein darf. Was bedeutet das für Ihre Vorgehensweise?

Kriegel: Wir wollen in der Entwicklung unserer Prozesse, Methoden, Tools (PMT) vom reinen Wasserfall-Modell wegkommen und agil werden. D.h. wir wollen die Sprints nutzen, um mit allen relevanten Stakeholdern in zwei- bis dreiwöchigen Workshops die Prozessstandards zu definieren. Die Teilnehmer müssen also mit der nötigen Richtlinienkompetenz ausgestattet sein, um das in ihre Fachbereiche tragen zu können. Das realisieren wir mit sogenannten Prozesswerkstätten und Projekthäusern, die im Tages- oder Wochenrhythmus neue Prozesse z. B. für das Anforderungsmanagement definieren und sich auch zur Einhaltung verpflichten. Auf dieser Basis kann die IT erste MVPs (Minimal Viable Products) erstellen und dem Kreis der Workshop-Teilnehmer präsentieren. Es geht darum, nicht immer gleich den Endzustand zu definieren, sondern mit 20 Prozent des Aufwands 80 Prozent des Funktionsumfangs zu beschreiben, in IT zu gießen, in die Praxis zu überführen und zu testen, dann erst den nächsten Schritt zu machen. Das ist ein gänzlich verändertes Vorgehen. Prozesse, Methoden und Tools sind hochkomplex miteinander vernetzt und müssen iterativ umgesetzt werden. Es geht um Speed.

Frage: Welche Thesen müssten Ihrer Meinung nach nachgeschärft werden? Wo fehlen vielleicht Thesen?

Kriegel: Ehrlich gesagt finde ich das Thesenpapier ziemlich komplett. Es bietet nach unserer Erfahrung nicht nur die Möglichkeit, mit den Fachexperten in die Diskussion zu gehen, sondern ist auch sehr wertvoll in der Kommunikation mit dem Top-Management. Vielleicht können wir die Thesen in Zukunft gemeinsam mit dem prostep ivip-Verein um Best Practices und konkrete Use Cases ergänzen.

Herr Kriegel, vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg. (Das Interview führte Michael Wendenburg)

 

 


Zur Person

Thomas Kriegel (Jahrgang 1966) ist seit 1994 für die AUDI AG tätig und leitet seit 2008 die Prozess-/Methodenentwicklung in der Technischen Entwicklung. Seit 2017 verantwortet er darüber hinaus das von ihm initiierte Programm Audi Systems Engineering. Vorher war er in verschiedenen Funktionen in der Entwicklung Gesamtfahrzeug und Fahrwerk tätig. Kriegel studierte Technische Mechanik an der TU Dresden und absolvierte einen MBA in Augsburg/Pittsburgh. Er ist verheiratet und hat 2 Söhne. Seine Leidenschaft im Privatleben gilt der Fotografie und dem Schach.

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