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Wir dürfen die Chancen des IoT nicht verschlafen

ein Interview mit Bernd Pätzold

Internet of Things und Industrie 4.0 stellen die bestehenden Geschäftsprozesse und Geschäftsmodelle infrage. Für die deutschen Unternehmen ist diese Umwälzung eine Chance, die sie nicht verschlafen dürfen, meint Dr. Bernd Pätzold, Vorstandsvorsitzender der PROSTEP AG, im Interview.

Frage: Herr Dr. Pätzold, wie viele intelligent vernetzte Geräte gibt es heute in Ihrem Haushalt?

Pätzold: In unserem Zwei-Personen-Haushalt sind je zwei Rechner, iPads und iPhones, ein NAS-Server, zwei Autos, Heizung und Heizkörper und der Fernseher ans Internet angeschlossen. Sogar die Zahnbürste kann über Internet Daten austauschen. Wenn ich richtig gezählt habe sind das mind. 13 Geräte, ohne die Unzahl von virtuellen Geräten zu berücksichtigen, die wir in Form von Diensten nutzen. Das war aber keine bewusste Entscheidung, sondern hat sich einfach so entwickelt.

Frage: Müssen Sie Ihren Freunden auch manchmal erklären, was mit dem Internet of Things oder Industrie 4.0 gemeint ist?

Pätzold: Ja, und auch manche Besorgnis zerstreuen, die durch Medienberichte wie die im Focus über fünf Millionen bedrohte Jobs geschürt werden. Es ist typisch deutsch, dass wir immer zuerst die Risiken sehen, statt unsere Stärken einzusetzen, um die Veränderungen aktiv zu gestalten und gewinnbringend zu nutzen.

Frage: Ist das IoT nur ein Hype wie damals die CIM-Euphorie oder schickt es sich wirklich an, unsere Wirtschaft zu revolutionieren?

Pätzold: Ich denke nicht, dass CIM nur ein Hype war. Die Idee wurde nur anders umgesetzt, als wir uns das damals gedacht haben. Als ich 1990 nach der Promotion in die freie Wirtschaft wechselte, lag die Automobilindustrie am Boden. Sie hat die Herausforderung des Lean Manufacturing jedoch angenommen und ihre Art Produkte zu entwickeln und zu fertigen radikal umgebaut, was sicher einer der Gründe für ihre heutige Führungsposition ist. PROSTEP war übrigens ein Kind dieser Umwälzung und ist damit ganz gut gefahren. Deshalb finde ich es fantastisch, dass wir wieder an der Schwelle einer grundlegenden Veränderung stehen, die unserer wissensorientierten Gesellschaft hervorragende Chancen eröffnet. Wir dürfen sie nur nicht verschlafen, denn sonst rollen wie bei fast jeder Revolution Köpfe – d.h. es gibt Gewinner und Verlierer.

Frage: Was ist denn eigentlich so revolutionär an dieser industriellen Revolution? Vernetzung ist ja nun kein neues Thema.

Pätzold: Es ist eine Vernetzung anderer Qualität – wir gehen von einer hierarchischen Struktur zu einem Netzwerk von autonomen Einheiten, die intelligent interagieren. Das eigentlich Revolutionäre aber ist nicht die Vernetzung an sich, sondern dass die Geräte Daten erfassen und austauschen, die neue Dienstleistungen ermöglichen und damit die Wertschöpfung verlagern. Die Daten rund um Produkt und Produktion machen aus Sicht der Kunden den eigentlichen Wert aus.

Frage: Bei uns in Deutschland spielt sich die vierte industrielle Revolution vor allem in der digitalen Fabrik ab. Ist das nicht eine verkürzte Sicht der Dinge?

Pätzold: Der Fokus liegt hierzulande derzeit wirklich sehr stark auf der Weiterentwicklung unserer Produktionsprozesse. So wichtig das ist, wir dürfen darüber die Veränderungen in den Produkten und Geschäftsmodellen nicht vernachlässigen. Smart Products, Smart Services und Smart Factories müssen gleichzeitig vorangetrieben werden.

Frage: Welches sind die wesentlichen technologischen Treiber der intelligenten Vernetzung?

Pätzold: Mich persönlich hat die Entwicklung des Raspberry Pi Zero beeindruckt, eines vollwertigen Rechners mit einem halben Gigabyte Hauptspeicher und einem Zielpreis von fünf US-Dollar. Wenn Sie die Sensorik hinzunehmen, die auch kleiner und kostengünstiger wird, können Sie ganz gewöhnliche Produkte mit viel Intelligenz ausstatten. In Verbindung mit dem nächsten Mobilfunkstandard G5 eröffnen sich uns hier Möglichkeiten, die wir noch gar nicht vollständig erfassen können.

Frage: Was bedeuten IoT und Industrie 4.0 für den Produktentwicklungsprozess? Muss er neu gedacht werden?

Pätzold: Ja, und ich sehe hier zwei wesentliche Herausforderungen. Zum einen stößt die klassische Organisation der Unternehmen an ihre Grenzen, weil der Prozess eben nicht mehr mit dem SOP (Start of Production - Anm. d. Red.) endet. Wenn Geräte nur noch als Dienstleistung verkauft und durch den Hersteller gewartet werden, endet ihr Lifecycle praktisch erst mit dem Ende des Servicevertrages. Nehmen Sie als Beispiel ein Smartphone. Auch nach dem Kauf erhalten Sie Neuerungen durch den Hersteller und das persönliche Customizing erfolgt permanent durch neue Apps. Das Produkt entwickelt sich aus Kundensicht permanent weiter und das ist heutzutage die Kundenerwartung auch an andere Produkte. Zum zweiten muss die Ingenieurausbildung mit ihren unterschiedlichen Disziplinen im Sinne des Systems Engineering-Ansatzes überdacht werden, um die Entwicklung dieser cyberphysischen Produkte bzw. Subsysteme optimal unterstützen zu können. Wir brauchen mehr Generalisten – ich denke hier in die Richtung eines Ing. Generalis - und System-Architekten, um die Herausforderungen in Zukunft zu meistern. Hier sind die Universitäten gefordert.

Frage: Muss dann nicht auch die PLM-Technologie neu erfunden werden, die das digitale Rückgrat der Produktentwicklung ist?

Pätzold: Der klassische PLM-Ansatz basiert auf der digitalen Beschreibung eines Produkts in Form eines CAD-Modells und seiner Struktur im PDM-System. Hier sind wir heute sehr weit, was die Methodik der Beschreibung und die Vollständigkeit der digitalen Repräsentation anbelangt. Dieser Ansatz stößt jedoch an Grenzen, wenn sich Produkte nicht mehr durch physische Bauteile, sondern nur noch durch die eingebettete Software unterscheiden. Da r sehe ich Handlungsbedarf und ein hohes Potential bei der Weiterentwicklung von PLM. Es mangelt weniger an den SW-Werkzeugen, als vielmehr an der Definition der notwendigen Prozesse und der unterstützenden Methodik. Es ist derzeit ein Top-Thema bei allen Herstellern und Anwendern.

Frage: Was würden Sie den PLM-Herstellern empfehlen? Sollen sie jetzt alle IoT-Plattformen in ihre Software integrieren?

Pätzold: Jeder PLM-Hersteller wird auf diese Herausforderung andere Antworten finden müssen, um sich im Wettbewerb zu differenzieren. Aber sicher werden PLM-Systeme künftig den Prozess des modellbasierten Systems Engineerings, das Lifecycle-orientierte Konfigurationsmanagement und das Application Lifecycle Management besser unterstützen müssen als sie das heute tun.

Frage: Welche Herausforderungen ergeben sich für die PROSTEP AG als Beratungshaus und als Anbieter von Integrationslösungen?

Pätzold: IoT und Industrie 4.0 werden für unsere Kunden dramatische Veränderungen bedeuten. Wir sind dank unserer umfassenden Beratungskompetenz und unserer langjährigen Erfahrung auf dem Gebiet der PLM-Integration und -Implementierung bestens gerüstet, sie dabei zu begleiten. Durch unser Engagement in zahlreichen Forschungsprojekten und Initiativen des ProSTEP iViP Vereins haben wir den Finger immer am Puls der Zukunft. Unser Leitspruch lautet nicht von ungefähr: INTEGRATE THE FUTURE.

Frage: Die Politiker befürchten, dass das Internet Millionen von Arbeitsplätzen vernichten könnte. Wird PROSTEP Personal abbauen?

Pätzold: IoT und Internet 4.0 werden sicher negative Beschäftigungseffekte bei geringer qualifizierten Tätigkeiten haben, insbesondere im Umfeld der Produktion. Das gab es aber schon vor der Erfindung des IoT. Denken Sie nur an die vielen Reisebüros, die vom Markt verschwunden sind, seit man seine Flüge, Hotels, Bahnfahrten etc. einfach über das Internet bucht. Auf der anderen Seite bindet der Trend zu neuen Product as a Service-Angeboten auch hier in den Hochlohnländern mehr Personal im Servicebereich und schafft neue Arbeitsplätze. Was PROSTEP konkret anbelangt, so sind die Beschäftigungseffekte absolut positiv: Wir suchen nicht nur gestandene Berater, Software-Architekten und Projektleiter, sondern auch junge Berufseinsteiger mit innovativen Ideen.

Herr Dr. Pätzold, wir danken Ihnen für das Gespräch. (Das Interview führte Michael Wendenburg)

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