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Müssen wir die Produktentwicklung neu erfinden?

Ein Interview mit Rainer Stark

Neue technologische Trends und neue Marktanforderungen verändern die Art, wie wir Produkte entwickeln. Im Interview mit dem PROSTEP Newsletter erläutert Prof. Dr.-Ing. Rainer Stark, Leiter des Fachgebiets Industrielle Informationstechnik an der TU Berlin und Vorstandsmitglied des prostep ivip Vereins, welche Herausforderungen die aktuellen Digitalisierungstrends für die Produktentwickler*innen in den Unternehmen bedeuten.

Frage: Herr Professor Dr.-Ing. Stark, Sie haben letztes Jahr ein Buch über die Virtuelle Produktentstehung geschrieben? Was hat Sie dazu bewegt?

Stark: Es waren eigentlich drei Motivationen: Zum einen die Frage, wie man Personen aus unterschiedlichen Bereichen - Studierenden, Managern, Fachleuten – die virtuelle Produktentstehung mit den unterschiedlichen Technologien verständlich machen kann. Die Zweite ist die Herausforderung, wie man diese Technologien nutzt, wie man sie einführt, kulturell pflegt und die Vorgehensweisen ändert. Das damit in Einklang zu bringen, wie die Welt in Zukunft aussehen wird und welche Dinge neu dazu kommen, war die dritte Motivation.

Frage: Peter Bilello von CIMdata hat kürzlich gesagt, dass die Produktentwicklung so wie wir sie kennen tot sei. Würden Sie das unterschreiben?

Stark: Tot ist ein provokanter Begriff, aber ich würde zustimmen, dass sie nicht mehr zukunftsfähig ist. Erstens schaffen neue Technologien aus dem IT-Umfeld neue Möglichkeit und verführen dazu, sie gewinnbringend einzusetzen. Die Künstliche Intelligenz ist ein Beispiel.
Dann gibt es bei den Produkt-Systemen und Anlagen, die wir entwickeln, technologische Veränderungen und Änderungen in der Anwendung, zum Beispiel durch neue Antriebskonzepte oder neue Services. Der dritte Trend ist das Thema Nachhaltigkeit, das aufgrund gesetzlicher Rahmenbedingungen und der gesellschaftlichen Akzeptanz konkreter wird. Daraus ergeben sich neue Themen, die die Ingenieure bei der Entwicklung beachten müssen.

Frage: Welche Herausforderungen ergeben sich aus Trends wie der Servitization konkret für die Unternehmen?

Stark: Der Trend zur Servitization bedeutet, dass sich die Ingenieure gerade bei der Entwicklung von langlebigen Investitionsgütern mehr Gedanken über die Nutzung machen müssen. Sie müssen überlegen, wie sie einen Service erbringen können, und eventuell auch mitbekommen, was draußen im Feld passiert. Die Unternehmen stehen außerdem vor der Herausforderung, ihre Entwicklungsfähigkeit durch die vielen Arten von Daten und Informationen zu steigern. Ihre IT-Abteilungen müssen ein immer größeres Portfolio von Applikationen integrierbar machen Und wir haben dadurch, dass wir größere System of Systems bauen wollen, im Systems Engineering wesentlich komplexere Modellwelten.

Frage: Wenn ich Sie richtig verstehe, geht es um den Digital Thread, d.h. die system- und domänenübergreifende Verknüpfung von Informationen?

Stark: Der digitale rote Faden wird marketingmäßig aufgebauscht. Letztlich geht es um die Enterprise Architecture Integration. Die Anbieter gehen alle dahin, größere System-Architekturen aufzubauen. Sie heben ihr Portfolio auf eine Plattform und bieten den Anwendern ein Ökosystem an, in dem sie coole Dinge machen können. Aber dafür müssen die Kunden mit ihren Daten und Modellen in dieses Ökosystem. Trotzdem müssen sie die Modelle aber zwischen diesen Datenräumen hin- und herschieben können. Dafür haben wir auch im im prostep ivip Verein noch keine Lösungen gefunden, weil es über das föderierte PLM hinausgeht.

Frage: Eigentlich sollen doch Initiativen wie GAIA-X oder Catena-X diese gemeinsamen Datenräume schaffen?

Stark: Catena-X hat aufgrund des Leads der beiden süddeutschen Automobilisten Fahrt aufgenommen und erwartet, dass GAIA-X Ergebnisse liefert. Aber es ist noch nicht klar, wie schnell die Provider hier in Europa auf diesen Protokollarten ihre Datenräume aufbauen oder ob die Amerikaner das in ihren Ökosystemen anbieten werden. Ein anderes Thema ist die Semantik, die wir in den Plattformen abbilden wollen. Der prostep ivip Verein denkt zum Beispiel über einen eigenen Engineering Data Space nach.

Frage: Die PLM-Hersteller bauen ihre Plattformen vor allem durch Übernahmen aus. Ist das der richtige Weg zu modularen, föderierten Architekturen?

Stark: Ich versuche, das neutral zu sehen. Die Hersteller sind natürlich daran interessiert, ihre Plattformen und Architekturen mindestens zehn bis 15 Jahre businessfähig zu halten. Auf der anderen Seite ist das Oligopol der Lösungsanbieter ein Problem für die gesamte Community, weil das Plug & Play nicht so funktioniert, wie die Anwender das gerne hätten und bräuchten. Vor allem kleinere und mittlere Unternehmen haben das Problem, ihre Architektur halbwegs flexibel zu halten, weil sie nicht die Stäbe eines Großunternehmens haben.

Frage: Einer der Trends, den Sie ansprachen, ist die KI, die durch Chat GPT in den Schlagzeilen ist. Welchen Einfluss wird sie künftig auf die Produktentstehung haben?

Stark: Ich bin fest davon überzeugt, dass jeder Entwicklungsingenieur in zehn Jahren einen Bot als Assistenten haben wird, und Teil dieser Bot-Systeme werden KI-Elemente sein. Die Frage ist, wie wir die Ingenieure bzw. Entwicklungsteams so qualifizieren können, dass sie einerseits ihre Entwürfe schneller und eindeutiger erstellen, aber andererseits ihren gesunden technischen Sachverstand behalten. Das Problem bei diesen KI-Lösungen ist nämlich, dass man fast immer ein Ergebnis bekommt und selbst hinterfragen muss, inwieweit man darauf vertrauen kann. Vorschläge, was man beim Modellieren anders machen kann, werden aber zu normalen Werkzeugen werden.

Frage: Brauchen wir nicht eigentlich auch eine neue Generation von CAD-Systemen, um Zukunftsthemen wie das Generative Design besser unterstützen zu können?

Stark: Wir haben in der Forschung schon mal darüber nachgedacht, wie man gradiertes Materialverhalten modellieren könnte, aber das dann nicht weiterverfolgt. Leider betrachten wir Ingenieure die Modellbildung zu wenig als gemeinsames Zukunftsthema mit Materialwissenschaftlern und Produktionstechnikern.

Grundsätzlich haben wir neue Möglichkeiten, wie wir die Modelle aufbauen und die CAD-Systeme danach ausrichten, aber wir wissen alle aus Erfahrung, dass gestandene CAD-Kerne nur sehr ungern verändert werden. Aber es gibt andere Repräsentationsformen wie Zellenmodelle, die man intensiver nutzen könnte.

Frage: Um das Thema Model-based Systems Engineering ist es ruhiger geworden. Ist es in inzwischen in der industriellen Anwendung angekommen?

Stark: Es laufen schon Kerninitiativen, die das systemische Denken stärker in den Mittelpunkt stellen, aber mit unterschiedlichen Antworten. Einige Unternehmen haben sich umorganisiert und versuchen mit den bisherigen Mitteln stringenter vorzugehen. Es gibt aber auch Häuser, die hinterfragen, was das für unsere Modellwelt bedeutet. Sie überlegen, welche neutralen Systemmodelle wobei helfen, und wie viel Aufwand sie in die Traceability stecken möchten, um Veränderungen leichter nachvollziehen zu können. Im Moment ist das mit sehr viel manuellem Aufwand verbunden. Für die Unternehmen ist es schwierig zu entscheiden, wo sie anfangen und Know-how aufbauen sollen. Außerdem stellt sich die Frage, wo die die neue Ingenieurfähigkeit im Engineering aufgehängt sein soll. Die Transformation kann nicht aus der IT getrieben werden.

Frage: Die Automobilhersteller versuchen, die Software-Entwicklung stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Wie beurteilen Sie diesen Trend?

Stark: Die Software-Entwickler haben sich eine eigene Welt geschaffen, wie und mit welchen Werkzeugen sie ihre Entwicklung betreiben. Die Frage ist, wie wir ihre DevOps mit dem V-Modell verheiraten, nach dem technische Systeme entwickelt werden. Im Moment speichern wir die eine Welt in der PDM/PLM-Umgebung ab und die andere in GitHub oder anderen ALM-Lösungen. Wenn wir eine Kontrollfunktion haben, die durch eine Software bereitgestellt wird, dann kann das nicht am Schluss geschehen. Wir müssen die Wirkweise der Software auf das technische System eigentlich bei jedem „Drop“ abbilden.

Eine spannende Frage ist, ob man die Software an einen Bosch oder Conti vergibt oder selbst macht. Da ergeben sich gerade beim neuen Antriebsstrang alle möglichen unterschiedlichen Konstellationen. Die OEMs möchten einerseits ihre eigenen Kapazitäten hochfahren, haben aber beim systemischen Entwickeln noch nicht das Know-how und müssen Leute mit den entsprechenden Fähigkeiten anwerben. In dem Wechselspiel werden die Karten zwischen den klassischen Systemzulieferern, den IT-Zulieferern und den OEMs gerade neu gemischt.

Frage: Wie schätzen Sie die Zukunft von Cloud-PLM ein? Fangen die Firmen inzwischen an, PLM in die Cloud zu verlagern?

Stark: Ich glaube, das kann man eindeutig bejahen. In fünf Jahren wird die Mehrzahl der Unternehmen Cloud-basiert arbeiten. Selbst wir als Hochschul-Institut haben eine gewisse Metamorphose schon durchgemacht. Wir betreiben die Siemens-Lösungen Teamcenter und Tecnomatix und ein paar kleinere Applikationen noch on-premises, nutzen 3DEXPERIECE und Fusion 365 aber aus der Cloud. Der Bedarf für skalierbare Cloud-Lösungen wächst gerade durch das mobile Arbeiten und die Notwendigkeit, die Daten von überall anzuzapfen. Die Frage ist nur, wie die Cloud organisiert ist, ob intern mit einer eigenen Server-Farm oder bei einem externen Provider. Wir müssen wesentlich genauer hinschauen, was wir meinen mit Cloud-Lösung. Das eine ist die skalierbare IT-Umgebung mit Basisdiensten und das andere sind die PLM-Dienste on top. Das kann so weit gehen, dass die PLM-Anbieter zu Betreibern von PLM-Lösungen werden und das Management der Lösung übernehmen, wie ich in meinem Buch beschrieben habe.

Herr Professor Dr.-Ing. Stark, vielen Dank für das interessante Gespräch.
(Das Interview führte Michael Wendenburg)


Zur Person

Prof. Dr.-Ing. Rainer Stark (Jahrgang 1964) leitet seit 2008 das Fachgebiet Industrielle Informationstechnik der TU Berlin und ist Vorstandsmitglied des prostep ivip Vereins. Außerdem war er bis 2021 Direktor des Geschäftsfeldes Virtuelle Produktentstehung des Fraunhofer-Instituts für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK). Stark studierte Maschinenbau an der Ruhr-Universität Bochum sowie der Texas A&M University (USA) und arbeitete danach als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Konstruktionstechnik/CAD der Universität des Saarlandes. Nach Erlangung des Doktorgrades wechselte er zur Ford Motor Company Europa. Dort war von 2002 bis 2008 als Technischer Manager für die Virtuellen Produktentstehung und Methoden verantwortlich.

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