Frage: Warum nimmt die Variantenvielfalt immer weiter zu? Ist das ein globaler Trend oder ein typisch deutsches Phänomen?
Rock: Ich glaube, dass es in der Tat ein Phänomen ist, was vor allem die deutschen Automobilbauer vorantreiben. Die klassischen Variantentreiber sind in den letzten Jahren überall die gleichen geblieben - Rechts- und Linkslenker, die verschiedenen Klimazonen, die länderspezifischen Emissionsgesetze und Verkehrsregularien. In Deutschland hingegen versucht man darüber hinaus, bestimmte Nischen zu besetzen und dem Kunden ein sehr individuell konfigurierbares Fahrzeug zu bieten, weil man davon ausgeht, dass er das will, und auf der anderen Seite die Möglichkeit sieht, dadurch diese Nischen zu besetzen und die Gewinne zu steigern. Wenn man versucht, das Fahrzeug eines deutschen Premiumherstellers zu konfigurieren, ist man häufig sehr lange beschäftigt. Bei anderen Herstellern, auch bekannten Herstellern von E-Fahrzeugen, kann man nicht selten mit weniger als zehn Klicks ein Fahrzeug vollständig konfigurieren. Wer von beiden Recht hat, muss man mit dem Kunden besprechen.
Meiner Erfahrung nach überfordert eine sehr ausgeprägte Varianz den Kunden eher, zumal wenn viele Features andere wiederum ausschließen.
Frage: Ist die Varianz für die deutschen Automobilhersteller kein Wettbewerbsvorteil mehr?
Rock: Ich glaube, dass sie ein Wettbewerbsvorteil ist, der nach und nach schwinden wird, weil die Kaufentscheidung künftig eher von den Leistungen der Software abhängen wird. Wie gut ist die Spracherkennung, wie gut ist das Erlebnis bei der Bedienung des Fahrzeugs? Die Emotionen, die man früher bezüglich Motor oder Fahrverhalten hatte, verlagern sich zu den Features im Inneren des Fahrzeugs. Und da möchte man alles haben, was man von seinem Smartphone oder seiner Smart Home-Anwendung kennt. Man möchte mit dem Fahrzeug reden können und beispielsweise den Tempomat nicht mehr kompliziert per Knopf bedienen.
Frage: Sie sprachen gerade die Software an. Ist sie nicht auch ein Variantentreiber?
Rock: Software ist auf der einen Seite Teil der Variantenproblematik und auf der anderen Seite Teil der Lösung. Sie kann ein Varianztreiber sein, aber auf der anderen Seite das Ganze auch deutlich vereinfachen, indem die zur Verfügung gestellte Funktionalität auch im Nachhinein in getrennten Paketen geliefert werden kann. Software bietet die Möglichkeit, den Zeitpunkt der Ausprägung der Varianz sehr spät zu setzen, bis hin zu dem Punkt, dass man sie erst auf das Fahrzeug bringt, wenn es beim Kunden ist. Was die Komplexität der Software angeht, hatten wir 2010 rund zehn Millionen Zeilen Code in einem Fahrzeug, 2020 waren es schon 100 Millionen, und wenn man das autonome Fahren hinzunimmt, liegen wir künftig wahrscheinlich deutlich über diesen Zahlen. Dafür eine vernünftige Variantensteuerung zu haben, wird schwierig sein. Auf der anderen Seite kann es sein, dass die Software in gewissen Bereichen nicht mehr von den Automobilherstellern selbst entwickelt, sondern als Open Source bereitgestellt und von der Community weiterentwickelt wird. Es wird sehr interessant sein, diese Entwicklung zu verfolgen.
Frage: Wie individuell kann ein autonomes Sharing-Fahrzeug der Zukunft eigentlich noch sein?
Rock: Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich hatte vor kurzem einen Mietwagen und versuchte, während der Fahrt das Navigationssystem per Spracheingabe zu starten, was mir auch gut gelangt. Aber die Wegberechnung war ein Desaster, weil jemand zuvor „Autobahnen meiden“ und „Fähren erlauben“ eingestellt hatte. Zudem waren die Sprachhinweise deaktiviert, so dass das System nicht mit mir kommuniziert hat. Man möchte aber nicht anhalten und sich mit dem System befassen müssen. Die Frage ist also, wie ich es schaffe, dass sich das Fahrzeug und damit auch das Navigationssystem für mich in einem Mietwagen ähnlich anfühlt wie in einem anderen Fahrzeug. Car-Sharing-Modelle, bei denen ich das Interface ständig neu lernen muss, werden nicht für zufriedene Kunden sorgen. Aus Erfahrung weiß man, dass eine negative Erfahrung drei positive benötigt, um diese sozusagen auszugleichen. Wir brauchen also fahrzeugübergreifende Memory-Systeme, die dem Fahrzeug beim Einsteigen bestimmte Informationen über mich und meine Vorlieben bereitstellen.