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PLM ist ein Langstreckenflug

Ein Interview mit Dr. Henrik Weimer

Hauptberuflich kümmert sich Dr. Henrik Weimer, der vor kurzem zum Vorstandssprecher des prostep ivip Vereins ernannt wurde, bei Airbus um die Unternehmensarchitektur in Digital Design Manufacturing und Service. Im Interview erläutert er, vor welchen Herausforderungen der Flugzeughersteller bei der Gestaltung seiner PLM-Architekturen steht und wohin sich die Aerospace-Industrie entwickelt.

Frage: Herr Weimer, Sie sind bei Airbus für die Unternehmensarchitektur in Digital Design Manufacturing & Services zuständig. Gehört das alles zu PLM?

Weimer: Wir haben da eine lange Reise hinter uns bis zu unserem heutigen PLM-Verständnis, vom Produktdatenmanagement über die Gesamtheit der Engineering-Tools, mit denen wir unsere Produktentwicklung unterstützen, bis zur Idee des modellbasierten Unternehmens. Was wir heute PLM nennen ist wirklich ein integrierter und modellbasierter Ansatz für Design, Manufacturing und Services. Wir beschreiben nicht nur unsere Produkte in Modellen, sondern haben auch Modelle über unseren industriellen Prozess und die Support- und Service-Prozesse. Die Herausforderung besteht also darin, die Trade-Offs über alle diese Disziplinen hinweg darzustellen. Bei jeder Produktveränderung müssen wir zum Beispiel sehen können, wie sich das auf den industriellen Prozess auswirkt und welche Auswirkungen das auf Support und Service und auf meine Kunden hat. Diese Analyse führen wir auf der Basis von Modellen und Simulationen durch.

Frage: Wie wirkt sich Corona auf die PLM-Strategie und laufende Initiativen aus?

Weimer: Die Corona-Krise betrifft die Luftfahrt natürlich besonders stark. Das ist für unsere Branche eine dramatische Situation, weshalb sie sich auf das Wesentliche konzentriert. Die Krise ist aber auch eine Gelegenheit für PLM und digitale Transformation, wie ich das schon an anderer Stelle gesagt habe, weil sich durch den Rückgang der Aktivitäten in bestimmten Bereichen die Kosten für die Transformation reduzieren, was Freiräume schafft, und wir Zugang zu Ressourcen haben, die uns vorher vielleicht nicht zur Verfügung standen.

Frage: Lässt sich die PLM-Strategie von Airbus in wenigen Sätzen beschreiben?

Weimer: Wir haben eine enorme Vielfalt von rund 3.000 Werkzeugen rund um PLM, was eine extreme Komplexität und extreme Integrationsprobleme bedeutet. Sie führt dazu, dass unsere Prozesse noch nicht besonders durchgängig sind. Während wir in der Vergangenheit einen Best-of-Breed-Ansatz für jede Fähigkeit verfolgt haben, denken wir heute, dass diese Komplexität die Innovationskraft mindert und nicht kostenoptimal ist. Deshalb ist unsere gegenwärtige Vision, mehr zu integrierten Plattformen zu kommen, weshalb wir mehrere Partnerschaften eingegangen sind. So arbeiten wir beispielsweise mit Palantir zusammen, um Datenanalyse und digitalen Produkt-Zwilling in der Airbus-Plattform Skywise zusammenzuführen und unseren Kunden als Produkt zur Verfügung zu stellen. Außerdem sind wir eine strategische Partnerschaft mit Dassault Systèmes eingegangen. Unsere Vision ist es, 3DEXPERIENCE als Kollaborationsplattform für digitales Design, Fertigung und Dienstleistungen zu etablieren, um zu stärker integrierten, modellbasierten und datengesteuerten Prozessen zu gelangen. Dann gibt es Funktionen für verschiedene Disziplinen, die durch 3DEXPERIENCE orchestriert werden. Das können proprietäre Funktionen oder Funktionen von Drittanbietern sein, z.B. für das Konfigurationsmanagement, die von den kommerziellen Lösungen heute nicht effizient unterstützt werden.

Frage: Was bedeutet die strategische Partnerschaft mit Dassault Systèmes für die anderen PLM-Systeme, die bei Airbus im Einsatz sind?

Weimer: PLM ist eine lebenslange Reise und über die Jahre gab es immer wieder Gelegenheiten, mit verschiedenen Partnern zusammenzuarbeiten. So wurde z.B. Windchill Anfang 2000 als PDM-Plattform für die gesamte Airbus-Gruppe ausgesucht und spielt weiterhin eine wichtige Rolle. In ähnlicher Weise haben wir Aras eher als Nischenlösung an der PLM-Peripherie ausgewählt, um die Kreativität in unserem Geschäft besser steuern zu können. Schließlich entwickeln wir viele Werkzeuge und Lösungen zur Prozessautomatisierung intern, z.B. für Strukturtests, Aerodynamiksimulation usw.

Frage: Wie viele unterschiedliche PLM-Architekturen gibt es bei Airbus? Für jedes Flugzeugprogramm eine?

Weimer: Das wäre zu stark vereinfacht. Jedes Mal, wenn wir ein neues Produktprogramm auf den Markt bringen, haben wir die Möglichkeit, in Innovation und digitale Prozessverbesserungen zu investieren. Wir haben in den 80er Jahren mit dem A320-Programm mit integriertem Produktdatenmanagement begonnen, dann haben wir in den 90er Jahren mit dem A330 / A340-Programm zusätzlich zum PDM erstmals den digitalen 3D-Mock-up eingeführt. Anfang 2000 kam dann die A380, wo wir mit dem 3D-Modell als Master und integrierten Prozessen für das Konfigurationsmanagement arbeiteten. Danach folgten A400M, A350 und andere Entwicklungen, die den Weg zu modellbasierten und digital integrierten Prozessen vertieften. PLM-Architekturen entwickeln sich von einem Programm zum anderen erheblich weiter, um unsere digitale Transformation voranzutreiben, aber es gibt immer Elemente, die wiederverwendet werden, um unsere vergangenen Investitionen zu nutzen und das Risiko für das nächste Programm zu reduzieren.

Frage: Werden die Prozessverbesserungen auch wieder in die laufenden Programme zurückgeführt?

Weimer: Wir führen sie da zurück, wo wir durch die Investitionen einen Mehrwert schaffen können. Da sich die Anfangsinvestition für das neue Programm bereits amortisiert hat, ist es einfacher, Nachrüstungen der Fähigkeiten in laufenden Programmen zu finanzieren. Darüber hinaus laufen selbst in unseren älteren Flugzeugprogrammen noch bedeutende Entwicklungen, wie die Neuausrüstung in den Programmen A320Neo und A330Neo oder die aktuelle Entwicklung der A321XLR, mit der wir die Reichweite und Marktpositionierung dramatisch verändern. Mit jeder neuen Produktvariante haben wir wieder erhebliche Entwicklungsaufwendungen und können auch Investitionen in die digitale Transformation und weitere Prozessverbesserungen rechtfertigen.

Frage: Wie weit sind Sie mit der konzernweiten Harmonisierung der PLM-Architekturen vorangekommen?

Weimer: Airbus wurde ja 1969 als eine Art Verein gegründet mit einem integrierten Produkt, aber dieses Produkt wurde von vier verschiedenen Unternehmen entwickelt, die unterschiedliche Prozesse und IT-Systeme hatten. Seit Anfang des Jahrtausends sind wir ein integriertes Unternehmen und haben seitdem auch bei der Integration der Systemlandschaften enorme Fortschritte gemacht. Bei Programmen wie dem A400M oder dem A350 gibt es nur noch einen Satz von Prozessen, Methoden und Tools, der an allen Standorten angewendet wird, nicht nur in den Gründerländern, sondern auch in den globalen Engineering Centers überall auf der Welt. Und wir haben jetzt auch eine abgestimmte Strategie über alle Geschäftsbereiche hinweg. Sie wird durch ein einziges gruppenweites Programm zur Umgestaltung des digitalen Designs, der Fertigung und der Dienstleistungen vorangetrieben, das sich an alle Geschäftsbereiche und Produktfamilien richtet.

Frage: Sind die Methoden des Model Based Systems Engineerings schon fest im Produktentstehungsprozess verankert?

Weimer: Wir haben seit vielen Jahren Ansätze zu MBSE in verschiedenen Bereichen wie Triebwerk, Treibstoff, Lärm, Elektrik oder Avionik. Woran wir noch arbeiten, ist, dies besser und globaler zu integrieren, um die Trade-offs zwischen dem Produkt als System, dem industriellen System und dem Support- und Servicesystem konsistent darstellen zu können. Dazu muss die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Model Based Systems Engineering noch weiter verbessert werden.

Frage: Wie durchgängig wird der Digital Twin heute bei Airbus genutzt?

Weimer: Wie gesagt, bieten wir das über die Skywise-Plattform als Service an. Unsere Produkte haben die Option, Daten aus dem Betrieb auf die Plattform hochzuladen, so dass wir unseren Kunden Analytics Services für die Routen-Optimierung oder die Optimierung der Maintenance-Planung zur Verfügung stellen können, um nur einige Beispiele zu nennen. Neben den Digital Twin-Fähigkeiten für unsere Kunden gibt es Projekte in der Produktion, um unsere Modelle zu kalibrieren und Prozesse über analytische Kontrollverfahren optimal zu steuern. Ein Beispiel ist das Thema Fastening – es gibt in einem Flugzeug Zehntausende von Befestigungen. Über IoT-verbundene Werkzeuge können wir nachweisen, welche Elemente gesetzt wurden und mit welchem Drehmoment sie angezogen wurden, um so die Inspektionskosten zu senken.

Frage: Sie sind bei Airbus auch für die Forschung rund um PLM verantwortlich. Wo liegen da die Schwerpunkte?

Weimer: Ein gutes Beispiel ist das Thema 3D-Printing. Wir sehen ein enormes Potential für 3D-gedruckte Bauteile und hatten deshalb in jüngerer Vergangenheit Projekte, um Design-Optimierungen zu machen. Dazu haben wir in Partnerschaft mit Dassault Systèmes neue Fähigkeiten entwickelt, um einerseits die Formgebung der Teile und andererseits den Druckprozess zu optimieren.

Frage: Bei welchen PLM-Themen hat die Aerospace-Industrie aus Ihrer Sicht die Nase vorn und kann vielleicht anderen Industrien als Vorbild dienen?

Weimer: Ich tue mich schwer, dazu eine Aussage zu treffen, weil das arrogant klingen könnte. Meine persönliche Überzeugung ist, dass wir bescheiden bleiben müssen und alle noch voneinander lernen können. Aber die Aerospace-Industrie hat sicher bei allen Themen rund um Sicherheit und die Nachweisbarkeit der Produktsicherheit eine lange Historie. Es gibt viele regulatorische Anforderungen, bei denen wir z.B. mit Hilfe des Systems Engineerings sehr genau nachweisen müssen, dass unser Produkt diese Anforderungen erfüllt. Und die Industrie als Ganzes arbeitet intensiv zusammen, um diese Sicherheitsziele zu erreichen, einschließlich der Regulierungsbehörden, internationalen Regierungsgremien usw. Hier sehe ich viele Parallelen zum autonomen Fahren im Automobilbereich, wo es noch keine klaren Vorschriften und Anforderungen gibt, die international standardisiert sind.

Frage: Fließen diese Erfahrungen in die Projekte des prostep ivip Vereins ein?

Weimer: Ja, wir haben z.B. auf Initiative der Kollegen von The Boeing Company gerade ein Projekt zum Thema Model Based Verifikation and Validation gestartet, bei dem es unter anderem darum geht, Simulationsmodelle für solche Nachweise zu verwenden. Wir wollen beweisen können, dass die Simulation korrekt die Realität darstellt, um physikalische Test-Aufbauten zu vermeiden.

Frage: Welche Akzente möchten Sie als neuer Vorstandssprecher des Vereins setzen?

Weimer: Wir haben in Aerospace, Automotive und anderen Branchen ähnliche Herausforderungen, was die Optimierung von Produkten und Produktionsprozessen anbelangt. Aus meiner Sicht ist der Verein eine hervorragende Plattform für die Kollaboration, um gemeinsam zu lernen und Best Practices zu definieren, gerade auch im Zusammenspiel mit unseren Supply Chains. Die Idee der Kollaboration ist eine Passion, die ich mitbringe. Das zweite Thema, an dem ich arbeiten möchte, ist die Internationalisierung, weil ich glaube, dass Innovationen rund um unsere Themen nicht an eine geografische Region gebunden sind.

Herr Weimer, vielen Dank für das Gespräch. 
(Das Interview führte Michael Wendenburg)

 



Zur Person

Dr. Henrik Weimer (1971) arbeitet seit 2002 für Airbus und ist derzeit als Senior Manager verantwortlich für die Architektur und Integration durchgängiger PLM-Lösungen, die Bedarfs- und Unternehmensplanung für PLM, sowie für Innovation, Forschung und Entwicklung in diesen Bereichen. Vorher war er in der IT bei der Daimler AG in verschiedenen Leitungsfunktionen tätig. Weimer studierte Informatik und Elektrotechnik an der TU Kaiserslautern und promovierte an der Rice University in Houston auf dem Gebiet der Computerwissenschaften. Seit 2018 gehört er dem Vorstand des prostep ivip Vereins an, der ihn vor kurzem zu seinem Sprecher ernannte.

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