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PLM wird durch die Vernetzung der Produkte erst ermöglicht

Ein Interview mit Jens Christian Göbel

Prof. Dr. Jens C. Göbel hat im vergangenen Jahr die Nachfolge von Prof. Martin Eigner als Inhaber des Lehrstuhls für Virtuelle Produktentwicklung an der TU Kaiserslautern angetreten. Mit PLM-Themen beschäftigt er sich schon seit vielen Jahren sowohl aus Forschungsperspektive, als auch aus Sicht der industriellen Anwendung. Im Interview mit dem PROSTEP-Newsletter erläutert er, wie die Zukunft von PLM aussieht.

Frage: Welches sind die technologischen Trends, mit denen sich PLM-Anwender und -Anbieter auseinandersetzten müssen?

Göbel: Im Mittelpunkt des Produktlebenszyklusmanagements werden künftig viel stärker smarte Produktsysteme mit integrierten Services stehen, die hochgradig vernetzt und Teil weiterer Systeme (Systems of Systems) sind. Die durchgängige Umsetzung von PLM-Konzepten entlang des gesamten Produktlebenszyklus wird durch diese Vernetzung einerseits erst ermöglicht, andererseits aber auch dringend benötigt, etwa um digitale Produktzwillinge integriert verwalten zu können. PLM ist daher ein zentrales Fundament im Lebenszyklus smarter Produkte. Allerdings muss sich PLM in verschiedene Richtungen weiterentwickeln und öffnen, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Dies betrifft beispielsweise die Einbindung weiterer Fachdisziplinen in ganz frühen Systems Engineering-Phasen, die Anbindung von Produktinstanzen in späteren Produktnutzungsphasen oder die Nutzung von KI für eine „Engineering Intelligence“.

Frage: Wo sehen Sie die größten Hürden bei der Implementierung und Optimierung von PLM-Anwendungen in der Industrie?

Göbel: Viele Hürden bei der PLM-Umsetzung sind nach wie vor organisatorischer Natur oder liegen im Bereich des Projekt- und Akzeptanzmanagements. Gleichzeitig machen jedoch die zunehmenden Funktions- und vor allem Integrationsumfänge die Implementierung von PLM-Lösungen noch komplexer. Es sind neue Kompetenzen gefordert, die die Digitalisierung der Produkte selbst einschließen und diese mit der Digitalisierung der Prozesse im Lebenszyklus zusammenbringen. Hilfreich für den Fortschritt der PLM-Implementierung ist aber die in der Industrie wachsende Erkenntnis über den Zusammenhang von PLM-Hausaufgaben und einer erfolgreichen Digitalen Transformation im Engineering bzw. im gesamten Produktlebenszyklus.

Frage: Sind die Unternehmen z.B. für die Entwicklung smarter Produkte und Services PLM-technisch gewappnet?

Göbel: Bei weitem nicht genug! Das Angebot smarter Produkte und Services ist unmittelbar mit der unternehmensspezifischen Gestaltung neuer Geschäftsmodelle, und flexibler Kooperationsmodelle verbunden. Hierfür müssen Schnittstellen und Erweiterungen von PLM in Richtung der ganz frühen Innovations- und Produktplanungsprozesse geschaffen werden. Dies erfordert einen grundlegenden Mind Shift, sowohl in den einzelnen Fachbereichen, als auch in den PLM- und IT-Bereichen. Eine weitere Herausforderung, besonders in großen Unternehmen, ist aktuell die PLM-technische Integration und Zusammenarbeit eher tradierter Unternehmensbereiche mit sehr agil arbeitenden Start-Up Bereichen.

Frage: Was bedeuten die aktuellen Hype-Themen wie Digital Thread und Digital Twin für den strategischen Stellenwert von PLM in den Unternehmen?

Göbel: Grundsätzlich kann man beobachten, dass die Unternehmen PLM als zentrales und notwendiges Fundament für diese Themen erkannt haben. Daher rückt es häufig aus ganz neuen Blickwinkeln heraus viel stärker als bisher in den Fokus strategischer Unternehmensinitiativen. Um falsche Erwartungshaltungen und unrealistische Nutzenvorstellungen zu vermeiden sollte man sich aber über das Verständnis dieser Begriffe im Klaren sein und diese vor dem Hintergrund konkreter Anwendungsszenarien, also nicht als Selbstzweck, betrachten. Dass dies möglich ist, haben wir am VPE bereits in mehreren Forschungsprojekten gezeigt, z.B. für den Einsatz digitaler Produktzwillinge für Service-basierte Geschäftsmodelle in der Landmaschinen- und Automobilindustrie.

Frage: Monolithische PLM-Systeme sind angeblich out. Die PLM-Hersteller ergänzen ihre Lösungen jedoch ständig um neue Bausteine. Ist das nicht ein Widerspruch?
Göbel: Die PLM-Lösungen müssen sich funktional und technologisch grundlegend weiterentwickeln, um mit der dramatischen Dynamik bei Produkten und Geschäftsmodellen Schritt zu halten. Eine besondere Bedeutung hat hier der Integrationscharakter von PLM. Es wird immer wichtiger, weitere Disziplinen-spezifische IT-Systeme und Plattformen entlang des gesamten Produktlebenszyklus mit wenig Aufwand und schnell zu integrieren, auch für temporäre Anwendungszwecke. Deswegen ist es erfolgskritisch, dass PLM-Anbieter ihre Versprechen in Richtung Offenheit einlösen und weiter vorantreiben, auch in gemeinsamen Initiativen wie dem Code of PLM Openness (CPO) des prostep ivip Vereins.

Frage: Sie haben über die Harmonisierung heterogener PLM-Umgebungen promoviert. Ist die Industrie da in den letzten Jahren vorangekommen?

Göbel: Ja, es hat in den vergangenen Jahren in vielen Unternehmen erfreulicherweise sichtbare Fortschritte und Erfolge in der PLM-Harmonisierung gegeben. Man hat aus der Vergangenheit gelernt und mehr methodische Ansätze verfolgt, die in ganzheitlicher Weise Prozesse, Methoden, IT-Systeme und die Organisation betrachten. Dennoch ist das Thema noch hoch aktuell. Technologische Weiterentwicklungen und zusätzliche PLM-Anforderungen erfordern auch hier neue Ansätze, die z.B. die Anwendung semantischer Technologien für die Verlinkung von Daten; wir sprechen hier von Semantic PLM.

Frage: Brauchen wir vielleicht so etwas wie ein Meta-PLM-System, das die Informationen aus den unterschiedlichen Datensilos verlinkt?

Göbel: Im Prinzip ja, aber bitte nicht starr! Ein solches Meta-PLM muss mit der zunehmenden Dynamik interner Organisationsstrukturen und der Wertschöpfungsnetze Schritt halten. Wir arbeiten z.B. in dem gerade frisch gestarteten BMBF-Projekt AKKORD mit Unternehmen verschiedener Industrien an einer intelligenten Datenvernetzung im Produktlebenszyklus. Dabei versuchen wir, neben PLM auch ERP, CRM und weitere Systeme flexibel einzubeziehen und KI-basierte Produktdatenanalysen durchzuführen, z.B. um auf der Grundlage von Qualitätsdaten bereits in der Entwicklung zukünftiger Produkte mögliche Fehlerquellen auszuschließen und Kosten vorherzusagen.

Frage: Der Lehrstuhl VPE steht wie kein anderer für die Weiterentwicklung des PLM-Begriffs in Richtung SysLM. Mit welchem Begriff können Sie sich mehr identifizieren?

Göbel: Wichtiger als die Begrifflichkeiten selbst, die ohnehin nicht einheitlich verwendet werden, sind für mich die Inhalte hinter den Begriffen. Wir werden PLM in Richtung der angesprochenen Aspekte weiterentwickeln und teilweise auch grundlegend neu denken müssen! Der Begriff SysLM trägt im Wesentlichen dem interdisziplinären Systemgedanken Rechnung, der mehr und mehr an die Stelle der traditionellen Produktvorstellung tritt. Insofern beschreibt dieser Begriff einen wichtigen Teil dieser Weiterentwicklung. Aber es ist nicht die einzige Entwicklungsrichtung von PLM, an der wir gerade arbeiten.

Frage: Wo werden Sie künftig die Akzente und Forschung und Lehre setzen? Bleibt MBSE ganz oben auf dem Lehrplan?

Göbel: MBSE bleibt eines unserer zentralen Themen, besonders als „Enabler“ des Smart Engineerings. Wir befassen uns z.B. gerade in einem großen interdisziplinären Forschungsvorhaben mit dem wissensbasierten Roadmapping und der Wertschöpfungsketten-übergreifenden Modellierung von Gesamtsystemarchitekturen in ganz frühen Innovationsphasen der Automobilindustrie. Vor einigen Wochen wurden wir als eine der ersten deutschen universitären Forschungsstellen in das SysML v2 Submission Team (SST) der OMG aufgenommen, um die nächste Generation von SysML mitzugestalten. Die Ergebnisse aus unseren Forschungsaktivitäten bringen wir aktuell in ein neues, Fachbereichs-übergreifendes Studienmodul Smart Systems Engineering ein, das wir gemeinsam mit Kollegen der Informatik und der Elektrotechnik im kommenden Wintersemester anbieten werden. Um den Nutzen unserer Forschungsergebnisse greifbar und diese für industrielle Unternehmen zugänglich zu machen, haben wir im vergangenen Juli das Demonstrator- und Erprobungslabor e4lab (engineering 4.0 lab) in Kaiserslautern eröffnet. Dies sind nur einige Beispiele, es werden noch viele folgen. Lassen Sie sich überraschen!

Frage: Im Oktober findet in Kaiserslautern die digitized engineering conference SYSLM2019 statt. Warum hat man den Namen der Veranstaltung geändert?

Göbel: Wir arbeiten am VPE seit der Gründung des Lehrstuhls durch Prof. Dankwort im Jahr 1994 an der Digitalisierung des Engineerings, also seit nunmehr 25 Jahren. Ich glaube, dass der Name diese übergreifende Grundidee ganz treffend wiedergibt und gleichzeitig unsere heutigen Kernthemen betont. Wir möchten den Blick in Zukunft noch stärker nach vorne richten auf visionäre, aber industriell relevante Ansätze und Trends, um den Teilnehmern eine Orientierung zu geben und einen inspirierenden Dialog über die Zukunft des digitalen Engineerings anzuregen. Ich freue mich sehr auf unser diesjähriges Programm, das angesichts der hochkarätigen Beiträge, übrigens auch mit Beteiligung der Prostep AG, ideale Voraussetzungen hierfür bietet.

Herr Göbel, wir danken Ihnen für das Gespräch.
(Das Interview führte Michael Wendenburg.)

 



Zur Person

Professor Dr. Jens C. Göbel leitet seit 2018 den Lehrstuhl für Virtuelle Produktentwicklung- VPE an der TU Kaiserslautern. Göbel studierte Wirtschaftsingenieurwesens (Maschinenbau) an der Universität Siegen. Nach seinem Studium befasste er sich mit PLM-Themen bei Bosch Rexroth, Keiper Recaro und Schmitz Cargobull sowie mit der Erforschung von Grundlagen für das Lebenszyklusmanagement integrierter Produkt-Service-Systeme an der Ruhr-Universität Bochum. Hier promovierte er am Lehrstuhl für Maschinenbauinformatik bei Prof. Dr.-Ing. Michael Abramovici über die Harmonisierung heterogener PLM-Umgebungen. Seit 2010 war er als Forschungskoordinator bzw. Oberingenieur und Leiter der Forschungsgruppe Lifecycle Management am selbigen Lehrstuhl tätig.

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